[Rezension] Katharina Hartwell – Das fremde Meer

„Die Veränderung hat das Haus umzingelt, die Zeit ist wie eine große, unaufhaltsame Welle über den Ort hinweggegangen, und vor der Haustür hat sie nicht Halt gemacht. Auch Paul hat sie gefunden, zwischen den vergilbten Postern und leiernden Kassetten hat sie ihn gefunden. So wie sie mich findet, wie sie uns alle finden wird, denn die Veränderung ist ja schon in uns, ist in unseren Körpern angelegt, die zerfallen, sich neu aufbauen, sich reparieren und wieder zersetzen und endgültig zersetzen.“

© Laura P

Alles ist miteinander verbunden. Die Liebenden, die Suchenden, die Verlorenen, die Bäume und die Häuser und das Meer. Immer wieder das Meer. Das Meer, das so undurchdringlich und übermächtig ist, das ewig seine Wellen ans Land trägt, und nie das gleiche Meer ist, stets in Veränderung begriffen. Marie und Jan sind miteinander verbunden. In all den zehn Geschichten dieses Debütromans begegnen sie sich auf verschiedenste Art, sie finden sich, verlieren sich, halten sich aneinander fest.

Es ist ein Roman über die Liebe und über die Vergänglichkeit. Über das Festhalten wollen und das nicht akzeptieren wollen, dass alles, alles vergeht. Dass alles sich im Wandel, unter steter Veränderung befindet, wie in der Geschichte von der Wechselstadt, in der alles in Bewegung ist und vieles wieder auftaucht, was verschwindet, aber eben nicht alles. Insbesondere die Menschen tauchen nicht wieder auf, oder nur partiell.

Das Fremde, Bedrohliche, Unheimliche nimmt in diesem Buch Gestalt an; Gestalten, die aus dem Meer kommen, das plötzlich anders, fremd ist, Gestalten mit schwarzen Augen und bleicher, grünlicher Haut. Es ist ein, nein, zehn Grusel-Märchen vom Tod und der Vergänglichkeit, aber vor allem von der Liebe, die stärker ist. Zugleich: Alles kehrt wieder. Wenn auch in anderer, verwandelter Form.

Man versteht erst am Ende, warum. Warum diese Geschichten, diese Hoffnung immer wieder, – die Hoffnung darauf, dass das starke Mädchen den schwachen Jungen rettet. Es ist traurig, es ist schön dies Buch zu lesen. Es lädt zum Träumen ein und verursacht Gänsehaut und zugleich das wunderbare Gefühl, dass da jemand ist, der auf einen aufpasst.

„Auf dem Nachhauseweg denke ich über die Möglichkeit des Unmöglichen nach. Ich wünschte, vor mir hätte es niemanden gegeben, nicht einmal die Möglichkeit von jemandem, so wie ich hoffe, dass es neben und nach mir nicht die Möglichkeit von jemandem gibt. Ich wünschte, du hättest die Jahre vor mir in einem Vakuum, einem menschenleeren Raum gelebt, aus dem du dann eines Nachmittags auf mich hinabfielst. Ich möchte dir eine neue Vergangenheit bauen, dich auf eine einsame Insel setzen, wo du geborgen und sicher verwahrt auf mich wartest, auf den Klippen stehend Ausschau hälst, nach dem Schiff, das mich zu dir bringt.“

Es ist ein Buch für alle, die lieben, auf der Suche sind, gerne Geschichten mögen und auch das Unheimliche nicht fürchten. Die Worte und Geschichten sind verknüpft in einem großartigen Geflecht aus Anspielungen, Metaphern, Erinnerungen, Wiederholungen, sprachlichen Knotenpunkten und Verweisen. Auf dem „Luftschiff“ liest Milena immer aus einem grün schimmernden Buch vor, das „Das fremde Meer und andere Geschichten“ heißt, und auch in „Zwei Inseln“ werden Geschichten vorgelesen, die der Leser von „Das fremde Meer“ schon zu kennen meint…

Ich war skeptisch, ein gehypter und viel gelesener, meist positiv besprochener Debütroman über die Liebe und den Tod? Ich las von dem Buch erstmals hier und war neugierig, ich hörte auf dem Open Mike in Berlin Katharina Hartwell daraus vorlesen und war abgeschreckt (ihre Art des Vortrags aus dem Kapitel „Astasia-Abasia“ war stark an den sprachlichen Duktus bei Poetry Slams angelegt und gefiel mir nicht, es schien mir überhaupt nicht zu dem Roman zu passen), ich sah das Buch an und wieder weg – und dann nahm ich es doch noch zur Hand und legte es kaum mehr beiseite.

Mein Fazit: Ein bewegendes, phantasiereiches, durchkomponiertes Debüt-Werk, das in seiner Vielgestalt der Geschichten ein großes Ganzes ergibt und mich allein schon dadurch überzeugt.

[ Katharina Hartwell – Das fremde Meer

Berlin Verlag

576 Seiten, 2013, gebunden, 22,99 €]

Auftakt:

„Ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass sie sich schützen können, wenn sie mit dem Schlimmsten rechnen, dass die Katastrophen immer nur die treffen, die nicht auf sie vorbereitet sind.“


Hartwell

© Tobias Bohm

Katharina Hartwell, 1984 geboren, studierte Anglistik und Amerikanistik am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie war u.a. Gewinnerin des MDR-Literaturpreises und Stipendiatin des Landes Hessen und des Freistaates Sachsen. 2013 war sie die Sylter Inselschreiberin.

»Das Fremde Meer« ist ihr erster Roman und wurde ausgezeichnet mit dem Hallertauer Debütpreis und dem Förderpreis für phantastische Literatur Seraph.

 

3 Gedanken zu “[Rezension] Katharina Hartwell – Das fremde Meer

      • Ich habe ehrlich gesagt erst hinterher gesehen, wer dahinter steckt, und freue mich umso mehr, dass ihr ein so tolles Projekt ins Leben gerufen habt. Ich finde den Ansatz großartig und die Seite rein optisch sehr ansprechend. Bin gespannt, was kommt, und wünsche euch viel Spaß und Kraft!

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