[Rezension] Tilman Strasser – Hasenmeister

Tilmann Strasser - HasenmeisterFelix Hasenmeister, ein talentierter Geiger und Ich-Erzähler des Debütromans von Tilman Strasser, verlässt sein Abschlusskonzert und versteckt sich eine Nacht lang vor der Welt und sich selbst. In der ohrenbetäubenden Stille einer Übezelle, eines akustisch abgeschirmten Raumes, lauscht der Leser den Erinnerungen an seine fünf Lehrer, von denen jeder skurriler erscheint als der andere, seine Eltern und Freundin Carla.

Die erste Lehrerin war eine Russin, deren Augen unterschiedliche Farben hatten: „Ihr Blick war grün, wenn ich gut spielte, doch meist sah ich in strenges Blau“ (S. 7). Diese autobiografisch motivierte Figur, wie uns der Autor während einer Lesung verriet, verlässt den Protagonisten bis Ende des Romans nicht. Sie geistert in verschiedenen Inkarnationen nicht nur im Garten des Protagonisten, sondern heiratet sogar seinen Hochschullehrer. Sie verkörpert in dem Roman eine große Sehnsucht des Protagonisten nach der Anerkennung, die ihm seitens des Vaters stets verwehrt bleibt. An sie erinnert auch das letzte Wort des Romans: „Moladjez“ (guter Junge) – ein Lob, der gleichzeitig eine Überwindung seiner Krise vermuten lässt. Das Haus des zweiten Lehrers ist überfüllt mit Instrumenten, zu denen er eine sehr innige Beziehung pflegt. Ein verkrüppeltes Genie, das die heilende Wirkung der Musik erfahren hat, ist sein dritter Lehrer. Anschließend unterrichtet ihn sein eigener Vater, bis er im Konservatorium in die Gruppe des besten Musikprofessors aufgenommen wird. Dabei spielt der Vater eine entscheidende Rolle im Roman. Denn so wie Felix durch sein Zur-Welt-Kommen seinem Vater den Auftritt des Lebens „vermasselt“, scheint der Vater dem Sohn durch sein vermeintliches Von-der-Welt-Gehen das Abschlusskonzert vernichtet zu haben. Von solchen Spiegelungen gibt es in dem Roman ganz viele, wie z.B. die Beschreibung der Frauenbesuche. Sie heben einerseits die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Vater und Sohn hervor. Andererseits dienen sie der Form des Textes, indem sie wie in einem Musikstück verschiedene Variationen einer und derselben Melodie vorführen.

Die Figuren des Romans sind in ihrer Kuriosität geschickt inszeniert, sodass der Leser zuweilen die Orientierung verliert und an ihrer Existenz zweifelt. Dennoch erscheinen sie glaubwürdig. Allein Carla, die konstant realistisch dargestellte Freundin des Protagonisten, kommt einem nicht ganz authentisch vor, was womöglich ihrer funktionalen Aufgabe innerhalb des Romans, Einiges aus der Vergangenheit des Protagonisten zur Sprache zu bringen, sowie ihren seitenlangen Kurznachrichten anzulasten ist.

Gattungstechnisch präsentiert Tilman Strasser mit „Hasenmeister“ einen Bildungsroman bzw. eine Coming-of-Age-Geschichte, an der der von den schrillen Darstellungen der Drogen-, Alkohol- und Sexexzessen der Gegenwartsliteratur ermüdete Leser sicherlich Gefallen findet. Denn statt durch Grenzerfahrungen jeglicher Art führt der Selbstfindungsweg des Protagonisten durch Erinnerung und somit durch die Erfahrungen des eigenen Lebens, das an prägenden Lehrern und harter Arbeit reich ist.

Auch Goetheʼaner kommen auf ihre Kosten. Denn in „Hasenmeister“ lässt sich eine Anspielung an Goethes „Wilhelm Meister Lehrjahre“ erkennen. Wilhelm Meister und Felix Hasenmeister haben die große Gemeinsamkeit, dass ihnen ein Beruf aufgedrängt wird. Wilhelm Meister widersetzt sich seinem Vater und beschließt sich selber, ganz wie er da ist, auszubilden. Doch sein scheinbar selbstbestimmtes Schicksal entpuppt sich gegen Ende dieses Klassikers als ein akribisch vorbereiteter Bildungsplan der Turmgesellschaft. Dagegen gehorcht Felix Hasenmeister seinem Vater: „Er [sein Vater] saß auf meinem Bett und sagte, ich taugte nicht für die Medizin. Mir fehle die Intelligenz und das Interesse daran, es bleibe nur noch Musik“ (S. 163). Er bereitet sich ohne Widerworte auf die Musikerlaufbahn vor, bis sein Vater nach einigen Jahren Funkstille plötzlich im Publikum seines Abschlusskonzertes erscheint und während des Auftritts vermeintlich stirbt. Dies ruft bei ihm einen inneren Konflikt aus, der ihn in seine Fluchtzelle treibt.

„Ich bin auf dem Boden einer Übezelle des Konservatoriums, etwa neun Stunden nach Abbruch meiner akademischen Hauptfachprüfung. Ich bin am Ende einer Suche, ich bin inmitten von Eingeständnissen. Ich bin wütend, ich bin blind, ich bin halb erfroren.“ (S. 193).

Eben in dieser Zelle passiert, was ihm seit der Kindheit nicht gelingen will. Er nimmt den Geruch seiner Geige wahr, der jedoch anders ist, als erwartet. Das Instrument riecht so unerträglich, dass er es fallen lässt: „Die Geige entgleitet mir. Sie rutscht aus den Fingern und fällt, sie wird auf dem Linoleum zerschellen, ich müsste danach schnappen, müsste nachfassen und ihren Hals erwischen. Aber ich fasse nicht nach“ (S. 209). Die Entscheidung, sie nicht zu greifen, ist zugleich eine gegen die Musik. Erlangt der Protagonist durch sie seine innere Freiheit, sodass er die Tür des freiwilligen Kerkers öffnen kann? Ob er sich nach den Lehrjahren auf eine Wanderung begibt, bleibt offen. Eben in der Freiheit, über sich selbst zu entscheiden, würde sich Wilhelm Meisters heimlicher Sohn, Felix (Hasen-)Meister, von seinem literarischen Vorfahren unterscheiden. Eine solche Neubearbeitung des traditionsreichen Stoffes würde somit dem Glauben der postmodernen Gesellschaft an die unbegrenzte Selbstbestimmung folgen.

Generell bedient sich der Autor zahlreicher Stereotype, von dem Bild des armen Künstlers über den Glauben, dass der Mann seine Partnerin nach dem Vorbild der Mutter sucht, bis hin zu den koreanischen Musikstudenten: „Die Koreaner, raunen wir, üben sechzehn Stunden am Tag, sie blockieren die Übezellen, einigen ist die Bratsche ans Kinn gewachsen, die Oboe an den Mund“ (S. 91). Obwohl einige von solchen stereotypen Phänomenen in dem Werk verarbeitet sind, wird allein die Darstellung der Koreaner explizit reflektiert. Denn wie der Protagonist einsieht, werden die Koreaner niedergemacht, nur weil die deutschen Studenten „faul und neidisch“ (S. 92) sind. Die übrigen Phänomene zu reflektieren wird dem Leser überlassen. Diese Strategie scheint der Autor bewusst zu verfolgen. Denn im Gegensatz zu Schriftstellern, die glauben, dem Leser die Interpretation des Werkes bereits im Roman vorführen zu müssen, fordert Tilman Strasser u. a. durch den Verzicht auf jegliche Bewertung seinen Leser heraus.

Abschließend ist noch auf den letzten Aspekt dieses lesenswerten Romans einzugehen. Der Autor, Tilman Strasser ist ein Absolvent des Studiengangs zum Kreativen Schreiben in Hildesheim. Was lernen die Studenten in so einem Studiengang? Wohl, dass es nicht mehr reicht, eine Geschichte ohne Form zu erzählen. So passt in diesem Roman die wohlkomponierte Struktur zu seinem Inhalt. Denn dieser Roman handelt nicht nur von der Musik, er ist selbst Musik. Dank der rhythmisch komponierten Sätze, Wiederholungen und Paraphrasen entsteht im Kopf des Lesers, sobald er sich von dem Text leiten lässt, ein Musikstück, in dem in Largo geschriebene Szenen mit denen in Allegro wechseln und von piano zu forte fortissimo übergehen. APPLAUS.

Fazit: Tilman Strasser liefert mit seinem Debüt ein ruhiges und melodisches Buch, das von der Suche nach der inneren Harmonie erzählt und das nicht nur den Musikstudenten zu empfehlen ist.

[Tilman Strasser – Hasenmeister

Salis Verlag

240 Seiten, 2015, gebunden, 24,95 €]

Lesens- und Sehenswertes:

http://www.wildedinge.de/

Auftakt

„Meine erste Lehrerin hatte zwei Augen in zwei Farben.“

Tilman Strasser

©

Tilman Strasser, geboren 1984 in München. Studierte in Düsseldorf Germanistik und in Hildesheim Kreatives Schreiben. Während des Studiums moderierte er Lesebühnen, Poetry Slams und Radiosendungen, organisierte
ein Theaterfestival und leitete ein Online-Magazin. Inzwischen schreibt er Drehbücher und Zeitungsartikel. Für die Arbeit an »Hasenmeister« erhielt er unter anderem das Literaturstipendium der Stadt München. Er lebt bevorzugt in Köln, manchmal auch in Berlin.

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