[Rezension] Siri Hustvedt – Die unsichtbare Frau

Seitdem wir uns in diesem Blog mit den Debüts von Autoren befassen, frage ich mich zunehmend, wie die literarischen Anfänge meiner Lieblingsautoren aussahen. Siri Hustvedt,  die ich sehr schätze und deren Romane und Essays ich immer wieder gern lese, hat bereits 1992 auf Englisch ihr Debüt „The Blindfold“ veröffentlicht. 2003 erschien das Buch als „Die Unsichtbare“ in deutscher Übersetzung. hustvedt

Die Protagonistin Iris Vegan ist Literaturstudentin in New York. Um über die Runden zu kommen, muss sie teils skurrile Nebenjobs annehmen. Im ersten Kapitel des Buches soll sie die Gegenstände aus dem Nachlass einer Frau beschreiben und diese Schilderungen flüsternd auf Band sprechen. Da ihr Auftraggeber ihr nichts über die geheimnisvolle Frau, mit deren Dingen sie sich befasst, verraten möchte, stellt sie selbst Nachforschungen an. Das Buch beginnt mysteriös, ein wenig wie in einem Krimi, so wie man es von Paul Auster (Siri Hustvedts Mann) kennt.

In den folgenden Kapiteln taucht man mitten in das Studentenleben der jungen hübschen Frau Iris ein, erlebt ihre Beziehungen / Affären zu Stephen und George. Es geht um die Migräneerkrankung der jungen Iris und wie sie dadurch beeinträchtigt ist in ihrem Alltag. Sicher hat Siri Hustvedt hier auch eigene Erfahrungen mit einfließen lassen, da auch sie an der Krankheit leidet. Zum Ende des Romans hin nimmt die Handlung rund um Iris eine interessante Wendung: Iris Vegan beschäftigt sich für Professor Rose mit der Übersetzung einer Geschichte über Klaus. Auf irgendeine Weise geht ihr diese Geschichte so nah, dass sie anfängt, selbst in Klaus` Rolle zu schlüpfen. Sie treibt sich als Mann verkleidet nachts in Kneipen herum, bis sie zufällig auf ihren Professor Rose trifft, der sie durchschaut und mit dem sie eine Affäre beginnt.

Wir waren laute Liebende in dieser Nacht in der philosophischen Fakultät. Ich bin sicher, wir machten Krach, als wir ineinander verknäult unter dem grellen Neonlicht auf den Boden fielen, und ich weiß, daß ich auf dem Höhepunkt schrie und daß er zu mir sprach, aber ich kann mich nicht erinnern, was er sagte (…) Worte, die nur bedeutungsvoll sind, während sie ausgesprochen werden. Sie zu wiederholen ist ein Sakrileg.“

Die Kapitel verbleiben oft unbestimmt und offen. Der Roman enthält viele phantastische Ideen, die mich gefesselt haben, wie Iris` Identitätenwechsel zu Klaus oder der mysteriöse Beginn mit der detaillierten Beschreibung von Gegenständen. Auch eine tolle Szene zu einem Gemälde (Giorgiones Gewitter), das Iris aus der Erinnerung beschreibt und währenddessen sie sich partout nicht an eine Schlüsselfigur (Mann mit Hirtenstab) auf dem Bild erinnern kann, hat mich nachhaltig beeindruckt.

Giorgione: Das Gewitter, um 1508 Quelle: wikipedia

Giorgione: Das Gewitter, um 1508 Quelle: wikipedia

Der Mann stand in der linken Ecke des Gemäldes und hielt einen Stab. Ich sah ihn lange an. Er war mir nicht vertraut. Es war, als sähe ich ihn zum erstenmal, dabei war alles übrige genau so, wie ich es in Erinnerung gehabt hatte. Aber wohin war er entschwunden gewesen? Wie viele andere sind dort? dachte ich. Menschen, Dinge, gesehen und dann vergessen, die nichts zurücklassen, nicht einmal das Wissen, daß sie fehlen. Ich starrte auf das Bild hinunter und in die milden Augen der Frau und dann auf ihr angewinkeltes Bein und auf die Blätter, deren Form ein Muster auf ihrem Fleisch zu hinterlassen schien.“

Diese Szene ist mir besonders aufgefallen und in Erinnerung geblieben, weil sie für Siri Hustvedt typische Themen aufgreift, die sie selbst heute in ihren Essays noch beschäftigen, wie Sehen, Erinnerung, Gedächtnis, Kunst. Der Roman enthält somit viel Potential – verbleibt aber im Unbestimmten. Die einzelnen Kapitel verlaufen bzw. enden offen, sodass der Eindruck des Unvollendeten entsteht.

Mich hat dieser Umstand beim Lesen nicht sonderlich gestört, doch sind spätere ihrer Romane in sich schlüssiger (wie „Was ich liebte“). Vielleicht ist dieses mehrfache Aufgreifen / Anreissen von Ideen dem klassischen Vorwurf dem Debüt gegenüber geschuldet, demzufolge viele Autoren in ihrem Erstlingswerk zu viele Themen und Ideen unterbringen wollen. Möglicherweise wäre es stimmiger gewesen, aus den Ideen einzelne Erzählungen zu machen.

Fazit: Sicher nicht Hustvedts bester Roman, aber absolut lesenswert, aufgrund der aufgegriffenen Gedanken rund um Identität, Erinnerung, Geheimnisse etc., welche in späteren Werken immer wieder auftauchen. Die offenen Enden der Kapitel haben den Vorteil, dass sich die Geschichten in die Erinnerung des Lesers einhaken um dort weitergesponnen werden zu können.

[Siri Hustvedt – Die unsichtbare Frau

Rowohlt

272 Seiten, 1992 / 2003, TB, 9,99 €]

Lesens- und Sehenswertes:

Homepage Siri Hustvedt (englisch)

 Auftakt:

„ Selbst heute noch meine ich manchmal, ich sähe ihn auf der Straße, hinter einem Fenster oder in einem Coffee-Shop über ein Buch gebeugt. “


© by Marion Ettlinger

© by Marion Ettlinger

Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Sie lebt in Brooklyn. Bislang hat sie sechs Romane publiziert, mit “Was ich liebte” hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen auf deutsch “Die Leiden eines Amerikaners” und “Der Sommer ohne Männer”. Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände “Leben, Denken, Schauen”, “Nicht hier, nicht dort” und “Being a Man” vor.

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