GI|RAF|FE, die; -, -n: Frauentypus, Ende 20. Jahrhundert bis heute, Verbreitung v.a. Westeuropa und Nordamerika, vermehrt zu finden an Orten des internationalen Jetsets. Lebt parasitär und in Co-Abhängigkeit mit wohlsituierten Exemplaren männlicher Spezies.
Worum es geht: Eva und Henry sind süchtig. Nicht abstoßend und mitleidheischend süchtig. SIe haben Geld und feiern ihren berauschenden Alltag. Zumindest meistens. Wenn da nur nicht der unzuverlässige Körper und die noch unzuverlässigere Psyche wären.
Janines Antworten Lauras Antworten
Worum es wirklich geht:
- Es geht um die Mechanismen einer Sucht, die fatalen Entwicklungen von Coabhängigkeiten und die Frage, was nach all dem noch von einem bleibt.
- Was ist es für ein Gefühl, in einer Parallelwelt aus Drogen und Party zu leben? Wo liegt die Grenze zum Absturz?
War dir die Autorin / der Autor bereits bekannt? Wodurch?
- Nein, sie war mir nicht bekannt.
- Nein, von der Autorin hatte ich zuvor nichts gehört oder gelesen.
Welche Erwartungen hattest du an den Roman?
- Ich habe einen typischen Berlin-Drogen-Roman erwartet, der mit wenig Substanz aufwarten kann. Da ich mich mit Suchtmechanismen sehr gut auskenne, habe ich allerdings, wie immer bei solchen Romanen, gehofft, dass das Thema differenzierter dargestellt wird.
- Da ich weder den Roman noch die Autorin kannte und mich wenig im Vorhinein informiert hatte: keine besonderen.
Überzeugt dich der Plot?
- Wir begleiten die Ich-Erzählerin durch ihren Drogenalltag. Im Grunde umfasst dieser Satz nahezu den gesamten Plot des Romans. Das kann nur in Maßen überzeugen, weil sich die Beschreibungen der Drogenerfahrungen schnell abnutzen. Der Plot ist daher auch nicht allzu geschickt angelegt. Die fragmentarisch aneinendergereihten Drogenexszesse haben kaum genug Kraft, die Geschichte ordentlich voranzutreiben.
- Der Plot trödelt mit der Ich-Erzählerin durch die Tage und nimmt erst etwa nach der Mitte des Romans an Tempo zu… Allerdings ist er weder sonderlich spannend noch auf andere Weise bemerkenswert.
Sofort mittendrin oder langsam reinkommen – wie gefällt dir der Einstieg in die Geschichte?
- Wir werden sofort mit dem intimsten Bereich der Erzählerin konfrontiert, sitzen mit ihr unter der kalten Dusche und dürfen das Katererwachen miterleben. „Für Durchblutung habe ich keine Zeit.“
- Der Leser steht schlagartig mit der Ich-Erzählerin unter der eiskalten Dusche – und wird mit diesem Schock in die Geschichte geworfen. Das passt zum Rest.
Was hältst du vom Ende des Romans?
- Das Ende ist für mich der unrealistischste Part am ganzen Roman und hat mir demnach auch nicht gefallen.
- Ein Hoffnungsschimmer, der allerdings vorhersehbar ist.
Was sind zentrale Themen und Motive des Romans?
- Die Themen des Romans greifen stark ineinander. Es geht um Drogen und die unmittelbaren Konsequenzen, die sich aus einer Sucht ergeben. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Coabhängigkeit, die sich aus einer Sucht ergeben kann. All diese Themen platziert die Autorin in die High Society und durchleuchtet die Abgründe hinter dem glanzvollen Schein.
- Drogen, Selbstsuche / Selbstverlust, Rausch, Partyleben, Beziehung, Edel-Prostitution
Wie sind die Charaktere beschrieben?
- Obwohl die Geschichte aus Sicht der Ich-Erzählerin berichtet wird, kommt sie einem nie wirklich nah. Der Wechsel aus Reflexion und Selbsttäuschung verhindern, dass man ihr wirklich etwas abnimmt. Die Figurenzeichnung wird erst dort stark, wo es um ihre Körperlichkeit geht. Vor allem Henry bleibt seltsam blass, hat nur einen Moment, in dem er als Figur wirklich auflebt. Als er Eva gesteht, dass er sich für Kokain prostituiert hat, wird er kurz greifbar, aber dieser Moment ist all zu schnell wieder vorbei.
- Man erhält keine sonderlich tiefen Einblicke ins Seelenleben der Ich-Erzählerin, obwohl sie ihre Geschichte aus ihrer persönlichen Sichtweise erzählt. Vielleicht wird der Leser durch den schonungslosen, rotzigen Tonfall auf Distanz gehalten. Auch ihr Freund Henry und Natalie, ihre vermutlich beste Freundin bleiben schemenhaft.
Ausufernde Detailverliebtheit oder flüchtige Überschau – wie gestaltet die Autorin / der Autor die Welt der Geschichte und was gefällt oder missfällt dir daran?
- Wie in einem Rausch werden wir durch die Welt des Romans gezogen, episodenhaft werden wir von einer Einnahme zur Nächsten befördert, ohne dass eine Chronologie von Bedeutung wäre. Der Fokus liegt klar auf den Gedanken der Protagonisten und den einzelnen Figuren, die Situationen selbst werden oft durch direkte Sprache dargestellt, anstatt durch ellenlange Beschreibungen.
- Die Autorin umreisst das Geschehen wie in Fragmenten: Man schliddert mit der Erzählerin von einer Situation zur nächsten und fühlt sich die ganze Zeit verkatert und wie nach einer Nacht, die man unabgeschminkt auf einem fremden Sofa verbracht hat. Alles passiert eher sprunghaft und unzusammenhängend, dem Lebensstil der Protagonistin entsprechend. Insofern hat mir diese Fragmenthaftigkeit in Kombination mit der Sprache (s.u.) gefallen, dass ich dadurch als Leserin unterschwellig die Stimmung der Geschichte nachempfinden kann.
Wie gefallen dir Stil und Sprache des Romans?
- Stilistisch hangelt man sich durch Parataxen, die den rotzig-überheblichen Ton der Geschichte stützen. Das gefällt zwar, passt aber nicht optimal zum Kreisen der Figuren und Evas Gedanken.
- Ein langsamer Plot bei Stakkato-Sprachstil und rotziger Wortwahl. Das fügt sich zu einem eher brüchigen Gesamteindruck.
Wie lange hast du an dem Roman gelesen?
- Durch die teilweisen Längen habe ich das Buch oft zur Seite gelegt. Ich habe etwa eine Woche daran gelesen.
- Fünf Tage.
Was sind die Stärken des Romans?
- Die authentischen Beschreibungen und Abläufe einer Sucht sind sicherlich eine Stärke des Romans. Henry und Eva sind Paradebeispiele Drogensüchtiger, ohne wie bloße Fallstudien zu wirken. Ihre Selbsttäuschungen und Versuche Normalität zu erreichen, könnten beklemmender kaum sein. Besonders stark zeigt sich die Autorin auch in der Darstellung der Coabhängigkeiten, die sich zwangsläufig in einer Sucht entwickeln. Das hebt den Roman deutlich von den vielen anderen Betroffenheitsgeschichten ab.
- Die Selbstkritik der Erzählerin, die als Unterton stets mitschwingt.
Was sind die Schwächen des Romans?
- Schwächen sehe ich im angelegten Plot. Letztendlich werden hier Drogenerlebnisse und kreisende Gedanken aneinandergereiht und das erzeugt Längen beim Lesen. So mag der Drogenalltag zwar aussehen, in der Literatur geht das Konzept nicht ganz auf. Zudem bin ich nicht ganz von der Figur der Eva überzeugt. Sie zeigt bereits zu Beginn stark reflektierende Momente, die nicht ganz zu ihrer sonst gezeigten Selbsttäuschung passen. „Ich gebe mich auf wegen eines Typen, der mich nicht haben will, und eines Bergs Kokain, den ich nicht bezwingen kann.“ vs „Ich hatte keinen Hang zur Sucht. Nur eine Schwäche für Pillen.“
- Der Plot ist zu schwerfällig, es ist einfach nichts besonderes, was passiert. Der gewollt provokante Sprachduktus scheint dazu nur bemüht.
Gab es nennenswerte Besonderheiten?
- Die größte Besonderheit dieses Romans liegt für mich in der Leichtigkeit, mit der die Autorin über die Drogenexzesse schreibt. Trotz aller Eskapaden habe ich nicht das Gefühl, dass ihr Ziel der Schockmoment ist.
- Nein. Leider nicht.
Hat das Buch etwas in dir verändert oder hast du etwas Bedeutsames gelernt?
- Weder noch. Der Roman zeigt mir altbekannte Muster.
- Nein. Vielleicht ist mein Lebensstil dem der Erzählerin zu fern.
Das Buch ist vergleichbar mit…
- Es reiht sich irgendwo zwischen dem frühen Christian Kracht und der überheblich-rotzigen Schreibe von Ronja von Rönne ein.
- Christiane F. ? Die Parallele wird im Buch selbst gezogen, allerdings eher kritisch: „Die Sucht, das war Christiane F., ihre schlampigen Haare, ihr hartes Berlin, das ich niemals hätte ertragen können.“
Wem würdest du das Buch empfehlen?
- Allen, die bei den Worten „Berlin“ und „Drogen“ nicht automatisch abschalten. Da aus meiner Erfahrung Süchtige nach Absturzberichten anderer gieren, sei es auch diesen Menschen empfohlen, auch wenn es nichts an ihrer Situation ändern wird.
- Leuten, die neben viel feiern in Berlin vielleicht doch auch mal zum Lesen kommen =)
Ein Moment zum Festhalten – deine liebste Stelle
- „Es gibt jemanden, der näher an einem Abgrund steht. Mein Abgrund ist lächerlich dagegen. Er ist nicht so tief, ich kann mit dem Zeh den Boden berühren. Zumindest sieht es von oben so aus.“
- „Ohne Schlaf ist alles wahr.“
„Natalies Lippen legen sich auf den Mund von Henry und drücken ab.“
[Anne Philippi – Giraffen
201 Seiten, 2015, gebunden 19,95 €]
Lesens- und Sehenswertes:
- Trailer zum Buch
- DRadio Wissen – Das perfekte Buch – gelesener Auszug
- Die Welt – Autor der Woche – Nur drei Fragen, Frau Philippi
- Moma – Buchtipp und Interview (Video verfügbar bis 20.05.2016)
Auftakt
Eine Stunde unter der Dusche.
Anne Philippi schrieb u.a. für die Berliner Seiten der FAZ und die Vogue und bis 2009 für die Vanity Fair als Reporterin über die Glamour- und Jetset-Gesellschaft. Danach zog sie nach Los Angeles und begann für die Süddeutsche Zeitung und GQ Hollywood-Interviews zu führen.
Derzeit lebt sie in Berlin und Los Angeles. Ihr ursprünglich geplanter Debütroman „Play Girl“ wurde zwar bei Suhrkamp Nova angekündigt, ist dort aber nie erschienen.