In die Gegenwart ist stets die Vergangenheit eingeschrieben. Manchmal kann man die Vergangenheit schwer entziffern, manchmal schwankt man zwischen verschiedenen Lesarten. Manchmal soll sie unausgesprochen bleiben und im kollektiven Schweigen aufgelöst werden. Doch Schweigen macht niemals etwas ungeschehen. Vergangenes ist auch unausgesprochen gegenwärtig, und eine gezogene Trennlinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart erweist sich früher oder später als Illusion.
In Verena Boos‘ komplexem Debütroman „Blutorangen“ geht es um den Umgang mit der Vergangenheit. Es geht um Erinnerung und Schuld – und es geht um das Schweigen.
„Blutorangen“ ist ein historischer und gesellschaftspolitischer Roman, der sich dem Thema der Vergangenheitsbewältigung widmet. Er ist aber auch ein Familienroman, der zeigt, wie die „große“ Geschichte bis in den Mikrokosmos der Familie hineinreicht und sich schließlich in Familiengeheimnissen manifestiert.
Die Handlung erstreckt sich über fünfundsechzig Jahre, von 1939 bis 2004, und drei Generationen: Maite kommt aus wohlhabendem Haus und zieht Anfang der Neunzigerjahre zum Studieren von Valencia nach München. Sie genießt ihre Unabhängigkeit, die Distanz zum strengen Elternhaus, sie erkundet die Stadt und feiert mit anderen spanischen Austauschstudenten. Während im Fernsehen über die Wiedervereinigung Deutschlands berichtet wird, erklärt sich Maite zur „Souveränen Republik“. Sie lernt Carlos kennen und lieben. Carlos ist Sohn einer Deutschen und eines Spaniers. Bei einer Familienfeier von Carlos sieht Maite ein Foto von seinem Großonkel in Wehrmachtsuniform. Sie ist geschockt, denn sie erkennt diese Uniform: Vor einiger Zeit hat sie im Tresor ihres Vaters ein Foto gefunden, auf dem ihr Vater eine ähnliche Uniform trägt. Wieso trug ihr Vater als Spanier eine Wehrmachtsuniform?
Maite lässt diese Frage nicht los, sie beginnt mit Nachforschungen. Ihr Verhältnis zu ihrem Vater Francisco, der Generalleutnant bei der Guardia Civil war, ist seit jeher schwierig. Während Francisco sich als uneingeschränkter Herrscher über seine Familie versteht, bleibt ihrer Mutter Isabel nur die Rolle als machtlose Vermittlerin zwischen Tochter und Vater.
„Wutstumme Begegnungen im Flur. Schläge ins Gesicht, aber sonst kaum Berührungen (…) Die unbeholfenen Vermittlungsversuche der Mutter.“
Maite spricht mit Carlos‘ Großvater Antonio, der nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs als Gegner des Franco-Regimes geflohen ist.
Mit Antonios Hilfe erkennt Maite, wie die politische Geschichte des Spanischen Bürgerkrieges und des Zweiten Weltkrieges mit ihrer eigenen Familiengeschichte zusammenhängt: Hitler hatte Franco im Spanischen Bürgerkrieg mit der Legion Condor unterstützt (diese Legion zerstörte 1937 bei einem Luftangriff die Stadt Guernica). Als „Dankeschön“ stellte Spanien 1941 eine Division zusammen, um Deutschland beim Russlandfeldzug beizustehen. Diese „Blaue Division“ war an der Belagerung Leningrads beteiligt und bestand aus 20.000 Freiwilligen. Einer davon war Maites Vater Francisco.
So komplex die Themen und der Plot dieses Romans sind, so komplex ist auch die Erzählstruktur. Die Handlung wird nicht chronologisch, sondern auf verschiedenen Zeitebenen erzählt.
In der Zeit um den Spanischen Bürgerkrieg und den Zweiten Weltkrieg wird die Flucht von Antonio, seiner Frau Julia und seinem Sohn Pau geschildert. Sie leben in einem Flüchtlingslager in Südfrankreich, das in dem von den Deutschen besetzen Teil Frankreichs liegt. Eines Tages hält ein Güterzug vor dem Flüchtlingslager. Niemand weiß, wohin er fährt. In die freie Zone, nach Spanien, nach Deutschland? Antonio hätte die Möglichkeit gehabt, sich zu verstecken, doch er steigt wie die anderen spanischen Flüchtlinge in den Zug, da er glaubt, dass auch seine Frau und sein Sohn in diesem Zug sind. Ein folgenschwerer Irrtum. Er wird nach Deutschland deportiert. Bei einem Zwischenhalt am Münchener Hauptbahnhof kann er jedoch fliehen. Er wird von Bauern – Carlos‘ deutschen Großeltern – aufgenommen und lebt bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, getarnt als französischer Zwangsarbeiter, auf ihrem Bauernhof. Erst nach dem Krieg sieht er Julia und Pau wieder. Die Ehe scheitert, Julia zieht nach Frankreich und Antonio bleibt mit Pau in München.
Ein anderer Handlungsstrang auf der gleichen Zeitebene befasst sich mit der Geschichte von Maites Vater Francisco. Bereits 1936 als dreizehnjähriger Junge ist er ein glühender Anhänger Francos. Für ihn sind die Bolschewisten Ursache allen Übels, deshalb zieht er 1941 als Freiwilliger in den Zweiten Weltkrieg und wird in Leningrad stationiert.
Auf der zweiten Zeitebene, Anfang der Neunzigerjahre, steht Maite im Mittelpunkt der Handlung. Es wird von ihrer Ankunft in München und der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihres Vaters erzählt.
Und schließlich gibt es noch eine dritte Zeitebene, die im Jahr 2004 angesiedelt ist: Carlos, Maite, Antonio und Carlos‘ Mutter Margot sind auf dem Weg nach Spanien. In Valencia sollen Tote, die 1939 von der Guardia Civil erschossen wurden, aus einem Massengrab geborgen werden. Unter den Toten ist auch Antonios Vater.
„Auch das ist die Hoffnung: dem Toten seinen Namen und ein Grab, ein anständiges, gemeinsam mit der Mutter, wo er hingehört. Eine neue Platte, mit dem Hochzeitsbild der beiden.“
Nicht nur die Zeitebenen wechseln von Kapitel zu Kapitel, sondern auch die Perspektive, aus der erzählt wird. Die Figuren, die im Zentrum stehen und die mit ihrer Perspektive den Roman prägen, sind Maite, Antonio und Francisco. Aber es gibt auch Kapitel, die aus der Perspektive von Carlos, Margot, Maites Mutter oder Maites Tante erzählt werden.
Die verschiedenen personalen Perspektiven werden durch Unterschiede in Sprache und Stil voneinander abgegrenzt. So wird in Antonios Perspektive oft die zweite Person genutzt:
„Das könnte keiner verstehen: Wie du aus Schlaf aufschreckst und panisch die Armbanduhr aufziehst und doch schon lange nicht mehr weißt, ob sie noch die rechte Zeit anzeigt. Wie sich Daumen und Zeigefinger weiter drehen, auch wenn die Krone schon lange am Anschlag ist. Es könnte sich keiner vorstellen. Würdest du erzählen, dass du einen Tag und eine Nacht, Tag und Nacht und noch einen Tag in einem Güterwaggon verbracht haben sollst, das würde dir keiner glauben.“
Bei Francisco hingegen wird die dritte Person an einigen Stellen durch „man“ ersetzt.
„Und so liegt man im Straßengraben und schützt mit den Händen einen Kopf, der schon lange nicht mehr denken kann, schon lange nicht mehr weiß, wohin mit all den Bildern, der niemals Worte finden wird für all dieses Weiß.“
Der Umgang mit der Sprache ist souverän. Zweifellos dient die Sprache in diesem Roman in erster Linie dazu, eine Geschichte zu erzählen. Es gilt, Worte zu finden, die das Schweigen durchbrechen. Die häufige Verwendung von Ellipsen nervt zu Beginn ein wenig, aber sobald die Handlung Fahrt aufnimmt, unterstützt die Wahl dieses Stilmittels auch die Sogwirkung des Plots.
Noch einige Gedanken zum Beginn: Gerade zu Beginn erschweren es einem die ständigen Zeit- und Perspektivwechsel, in den Roman einzusteigen, und man bleibt auf Distanz. Doch scheint dies – durchaus nachvollziehbar – gewollt und Konzept der Autorin zu sein, die es dem Leser gar nicht einfach und gemütlich machen möchte. Wie die Protagonistin auch, muss man sich die Geschichte zunächst erarbeiten, bis sie einen gefangen nimmt.
Es sind jedoch nicht nur die ständigen Perspektiv- und Zeitwechsel, die den Einstieg schwierig gestalten. Hinzu kommt, dass auf den ersten achtzig Seiten die Zeitebenen um 1990 und 2004 dominieren. Vor allem im Jahr 2004 befinden sich die Figuren zunächst in einer Art Stillstand. Maite, Carlos, Margot und Antonio warten auf einen Zug, und später sitzen sie in einem Zug. Viel mehr geschieht auf dieser Handlungsebene nicht. Während sie sitzen und warten, erinnern sie sich an frühere Begebenheiten. Ihre Erinnerungen sind Berichte, die vieles vorwegnehmen, oder die Figuren psychologisch ausleuchten. Sie wirken beim Lesen wie eine Verzögerung, ein Hinauszögern der Handlung. Man sitzt zwar im Zug, aber hat trotzdem das Gefühl, dass es noch nicht richtig losgegangen ist. Das ist wohl weniger Konzept als eine leichte Schwäche des Romans.
Die Figuren, die zunächst die Handlung dominieren, Carlos, Maite, Margot und Antonio, sind keine schillernden Figuren. Sie sind sympathisch, menschlich, in der Realität möchte man sich gerne mit ihnen umgeben, ja, auch gerne mit ihnen im Zug sitzen, aber sie sind als literarische Figuren nicht herausragend, weil sie dem Leser bereits von Anfang an ihr Inneres so deutlich offenlegen.
Doch dann, nach achtzig Seiten, als der Roman für eine längere Passage auf die Zeitebene von 1939 wechselt und Antonios Flucht aus Spanien beschrieben wird, spürt man beim Lesen das erste Mal, dass man nicht nur distanziert auf einen Vorgang guckt, sondern auch innerlich beteiligt ist, da es der Autorin gelingt, diese existenzielle Situation in klare und mitreißende Bilder zu übertragen. Diese innere Beteiligung bleibt bis zum Ende der Lektüre bestehen.
In dem Kapitel über die Flucht begegnet man zudem mit Julia, Antonios Frau, einer interessanten literarischen Figur, die zwischen Stärke und Härte changiert.
„Julia nimmt ihn an die Hand, wenn er falsch denkt und sich in den Straßengraben legen will. Nur ihre Hand nicht loslassen. Julia überlässt er alles Handeln.“
Julia steht zwar nicht im Zentrum der Handlung, aber auch in ihrer Abwesenheit ist sie stets präsent.
Ins Zentrum der Handlung rückt nun auch eine andere Figur: Maites Vater Francisco. Francisco, der despotische Vater und Faschist – Stück für Stück entfaltet sich seine Biographie, die seine Entscheidungen und Taten nachvollziehbar, wenn auch nicht entschuldbar macht.
„Am Ende ist es durch nichts zu entschuldigen.“
Besonders die Szenen aus Franciscos Vergangenheit, sei es das Sammeln von Schmetterlingen im sommerlichen Valencia oder das Absterben seiner Zehen im tödlichen Winter von Leningrad, sind unglaublich eindringlich und beklemmend – und wohl die nachhaltigsten Momente dieses Romans.
Verena Boos hat sich mit ihrem Debütroman einem großen Erzählvorhaben gestellt. Vom sperrigen Einstieg abgesehen, zeigt sich die Autorin immer als eine äußerst souveräne Erzählerin, die ihren Stoff fest im Griff hat und mit sicherer Hand die verschiedenen Handlungsstränge, Zeitebenen und Perspektiven ineinander verschränkt. Dieser Debütroman hebt sich durch seine Komplexität von vielen anderen Debüts ab. Verena Boos macht es dem Leser nicht bequem, aber sie überzeugt gerade durch ihren kompromisslosen Erzählwillen. Als Autorin ist sie definitiv eine „souveräne Republik“!
[Verena Boos – Blutorangen
Aufbau Verlag
411 Seiten, 2015, gebunden, 19,95 €]
Lesens- und Sehenswertes:
Homepage zum Roman
Beitrag von Jan Brandt auf Zeit Online
Auftakt:
„Sieben liegen da. Gleich holt man sie raus.“
Verena Boos, 1977 in Rottweil geboren, lebt in Frankfurt. Studium der Anglistik und Soziologie, Promotion in Zeitgeschichte. Mehrjährige Aufenthalte in Italien,
Großbritannien und Spanien. Arbeit als Journalistin, Referentin und Autorin. Teilnahme am Klagenfurter Literaturkurs und der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung. Sie wurde für die Bayerische Akademie des Schreibens ausgewählt und las beim Open Mike.
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