Wem würde ich begegnen, wenn ich in unserem Viertel nachts an Haus- und Wohnungstüren klingelte? Das fragt man sich wohl zwangsläufig, nachdem man „Nachts“ von Mercedes Lauenstein gelesen hat.
In Lauensteins Debüt läuft die Ich-Erzählerin nachts durch die Straßen der Stadt und klingelt an Türen, wenn sie irgendwo noch Licht brennen sieht. Sie gibt sich als Forscherin aus, die herausfinden will, was die Menschen nachts tun, wenn sie nicht schlafen. Die Protagonistin wird nicht von allen hereingelassen. Drei von zehn Wachenden machen ihr die Tür auf.
Die fünfundzwanzig Episoden handeln von den Menschen, die die Tür öffnen. Die Menschen, denen die Ich-Erzählerin begegnet, sind allein in ihrer Schlaflosigkeit. Sie vermissen jemanden, warten auf irgendwen, vielleicht schläft noch irgendwer im Nebenzimmer. Es scheint wie ein unausgesprochenes Gesetz dieser Begegnungen zu sein, dass neben der namenlosen Ich-Erzählerin und den Wachenden keine dritte Person anwesend sein darf. Sobald das Baby schreit, die Frau aufwacht oder eine Freundin anklingelt, verschwindet die Erzählerin in der Nacht.
Die Nachtmenschen erzählen bereitwillig ihre Geschichten: Sie erzählen Geschichten von Liebe und Tod, von Sehnsucht und Fernweh und von der Angst.
Es sind Geschichten von Verlassenen: Der Schlagzeuger einer Musicalband wurde von seiner Jugendliebe verlassen, ein Koch von einer englischen Schneiderin, eine Werbetexterin von ihrer Mitbewohnerin, ein Student von seiner großen Liebe. Und wenn sie nicht verlassen wurden, so haben sie Angst davor, verlassen zu werden. Wie die Architekturstudentin Jule, deren Freund in Indien oder Pakistan leben will.
„“Aber ich meine ja nur, ich müsste mich zumindest selbst kennen mittlerweile, oder? Ich bräuchte doch eine Vision, ein Ziel, einen Traum – mein Ding eben. Aber da ist nur Moritz. Ich will mit Moritz zusammen sein. Ein Haus mit Garten und Moritz. Mehr will ich gar nicht.“
„Ist doch okay“, sage ich.
„Nee, ist überhaupt nicht okay. Da kannst du jeden auf der Straße fragen. Alle, alle, alle sagen: Man braucht was für sich allein. (…)““
Manche können nicht schlafen, weil sie um einen geliebten Menschen trauern, manche finden keinen Ruhe, weil die Stadt so laut ist, manche nutzen die stillen Stunden, um ihr Leben aufzuschreiben und manche haben „höllische Angst vor der Einsamkeit“. Die Einsamkeit, die spürt man in der Nacht am intensivsten. Es ist genau diese Einsamkeit, die die Ich-Erzählerin durch die Straßen treibt und an fremden Türen klingeln lässt.
Doch in „Nachts“ gibt es nicht nur die Einsamen, Verlassenen und Trauernden. So erzählt der Beleuchter Max, wie er eines Nachts die Barfrau Julia kennengelernt, ihr Kuchenrezepte vorgelesen und mit ihr den Flugzeugen nachgeschaut hat. Und in „Nachts“ gibt es auch Menschen wie Aziz, der einfach nur wach ist, weil er zu seiner Schicht auf den Großmarkt muss.
Alle Geschichten sind ähnlich aufgebaut: Zunächst wird das Haus, bzw. das erleuchtete Fenster beschrieben, dann geht es mit der Erzählerin durch einen Hausflur. Die Person, die die Tür geöffnet hat, wird äußerlich skizziert und im Anschluss wird der Blick in die Wohnung gelenkt.
„Die Wohnung besteht aus einem einzigen länglichen Raum, links an der Wand eine Küchenzeile mit einer schmalen Dusche, geradeaus das schmale Fenster, davor ein Schreibtisch. Rechts ein kleiner schwarzer Ofen, in dem ein Feuer brennt, davor ein Korb mit Holz. Es riecht nach Shampoo und Zigarettenrauch.“
Vielleicht wundern sich die GastgeberInnen noch kurz darüber, dass eine fremde Person an ihrer Tür geklingelt hat, aber wenige Augenblicke später erzählen sie aus ihrem Leben und schildern ihr Verhältnis zur Nacht.
„Er hängt in diesen Stunden meistens nur rum, sagt er. Zeichnet ein bisschen, entwirft sein Traumhaus, richtet es ein, stattet es mit verrückten Unterkellerungen und Dachbauten aus, zeichnet ein ganzes Landschaftsszenario drum herum, zerreißt es, beginnt von vorn. Nachts, sagt er, fällt ihm das leichter, weil nachts alles weniger ernst ist, weil sich nachts sogar brave Menschen mit ihren geregelten Tagsüberjobs in ungehemmten Träumen verlieren und nachts deshalb alles Raum hat, was am Tag keinen hat.“
Dieser immer gleiche Aufbau könnte spätestens nach einem Dutzend dieser Geschichten monoton werden, doch die Begegnungen mit Lauensteins Ensemble holen den Leser und seine Aufmerksamkeit immer wieder zurück und gewinnen ihn schließlich als einen nächtlichen Verbündeten, selbst wenn beim Lesen draußen die Sonne scheint. Gleichzeitig hat der wiederkehrende Aufbau auch etwas Schlafwandlerisches, so dass sich die Nacht sogar in der Form wiederspiegelt.
All diese Geschichten werden nur durch die Tatsache, dass es Nacht ist, und durch die Ich-Erzählerin verbunden. Man könnte nun eine leidige Diskussion darüber eröffnen, ob es sich bei „Nachts“ um einen Roman oder doch eher um einen Erzählband handelt. Das kann jeder gerne für sich entscheiden – für mich ist „Nachts“ durch die Figur der Erzählerin ein Episodenroman. Insgesamt erfährt man über die Ich-Erzählerin kaum etwas. Doch sie unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von ihren GastgeberInnen. Im Gegensatz zu ihren GastgeberInnen hat sie keinen Rückzugsort. Sie ist der Nacht ausgeliefert und sucht bei den Wachenden nicht nur Unterschlupf, sondern Halt. Und dieser Hintergrund der Erzählerin verleiht allen Episoden einen gemeinsamen existenziellen Grundton, denn die Schlaflosen, ihre Wohnungen und Geschichten sind für die Erzählerin wie ein Rettungsring auf dem stürmischen Meer der Nacht.
„Die Fenster, hinter denen noch Licht brennt, werden immer weniger, je später es wird. Ich zähle sie. Sie ziehen mich an. Die dunklen nicht, die machen mir Angst. Schlafende gruseln mich in ihrer Selbstvergessenheit. Ich halte mich deshalb an die Wachenden. Gibt es nur noch ein einziges erleuchtetes Fenster in einer ganzen Straße, bleibe ich stehen, blicke hoch und bete, dass es jetzt nicht erlischt. Einer muss übrig bleiben, einer muss immer übrig bleiben.“
Bislang habe ich Nachtmenschen in meinem Wohnumfeld nur wahrgenommen, wenn sie mit lauter Musik meinen Schlaf gestört haben. Wenn ich am nächsten Morgen früh aufstehen und raus zur Arbeit musste, habe ich tatsächlich nachts an ihren Türen geklingelt. Natürlich nicht, um mir ihre Geschichten anzuhören. Vielleicht wäre das besser gewesen.
[Nachts – Mercedes Lauenstein
Aufbau Verlag
191 Seiten, 2015, gebunden, 18,95€]
Lesens- und Sehenswertes:
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Auftakt:
„Nachts schlafe ich nicht.“

© Juri Gottschall
Mercedes Lauenstein, 1988 in Kappeln an der Schlei geboren, arbeitet seit 2009 in der jetzt-Redaktion der Süddeutschen Zeitung und schreibt als freie Autorin Essays und Reportagen für verschiedene Zeitungen und Magazine. Sie lebt in München. »Nachts« ist ihr erstes Buch.
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