Sommer in Jena. Bernhard Duder und seine Partnerin Gabriele zelebrieren wie jedes Jahr aufwendig ihr Kennenlernen. Doch dieser Tag hat auch eine dunkle Seite. Denn an demselben Tag vor fünf Jahren, als sich Bernhard und Gabriele ineinander verliebten, ist Bernhards Bruder Jonas spurlos verschwunden. Während der rebellische Jonas dem Anschein nach der Gesellschaft den Rücken kehrt, hat Bernhard alles, was man gesellschaftlich als erstrebenswert erachtet: einen guten Beruf als Jurist, steile Karriere, schöne Frau an seiner Seite und ein ruhiges Leben oben drauf. Als er jedoch glaubt, Jonas auf der Straße gesehen zu haben, beschließt er ihn nun endgültig zu finden.
Wie an dieser Handlungsvorschau unschwer zu erkennen ist, sind die zentralen Themen dieses Debüts einerseits der Wunsch nach dem Ausstieg aus der Gesellschaft und andererseits die Frage danach, was erstrebenswert ist und wo die Grenzen der Anpassung an sie liegen. Denn nicht nur Jonas oder Bernhard, sondern auch weitere Figuren (wie z.B. Bernhards Chef oder dessen ehemaliger Geschäftspartner Dombek) dieses gut komponierten Werkes lassen sich unter diesen Aspekten betrachten. Während die Männer unter den gesellschaftlichen Erwartungen zu leiden scheinen, sind die Frauen dieses Romans, wohl von den feministischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte beeinflusst, die starken Figuren.
Die unsere Gegenwart und nicht zuletzt sich selbst reflektierende, ästhetisch sauber komponierte Sprache des Romans, der dem stillen Zwang der Gegenwartsliteratur, nur in kurzen Sätzen zu schreiben, entkommt und sogar die indirekte Rede benutzt (!), gehört zu den unwiderlegbaren Stärken des Romans, der einen in diese Hinsicht anspruchsvollen Leser bei seiner Lektüre sicherlich erfreuen wird. Eine Kostprobe unter vielen liefert der nachfolgende Ausschnitt:
„Hat Jonas sich gemeldet?“
Nicht direkt gemeldet. Stattdessen hatte er sich in seine Träume eingeschlichen und es sich neben dem Doppelbett bequem gemacht, von wo aus er Gabriele und Bernhard wie etwas betrachtete, das er vielleicht kaufen wollte. […] Bernhard wollte Gebriele davon erzählen. Aber er schwieg, weil er fürchtete, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten. Was ausgesprochen wurde, erhielt Realität. Behauptet ein Mädchen seiner Freundin gegenüber, sie habe den Jungen, in den beide verliebt sind, an der Bushaltestelle geküsst, ist das für die Freundin genauso schmerzhaft, als wäre es tatsächlich passiert. Sagt der Vater zur Mutter: „Ich liebe dich nicht mehr“, wird ihr Zusammensein nie wieder so sein wie zuvor, auch wenn sie es schaffen, sich irgendwie wieder zusammenzuraufen. Worte schlagen Breschen in die Wirklichkeit, die nicht mehr geschlossen werden können. Jonas durfte keine solche Bresche werden. Er sollte gefangen bleiben im Reich der Wahrnehmungsfehler.
Doch nicht nur die Figuren bewegen sich zwischen zwei gegensätzlichen Polen, der Abgrenzung von und der Anpassung an die Gesellschaft. Auch die sprachliche Ebene des Romans hat ein zweites Gesicht, und zwar wenn sie bei Vergleichen zuweilen auf stereotype Bilder des Alltags zurückgreift, was folgende Stellen veranschaulichen können: „Er kannte sie nur in Anzügen und flachen Schuhen, wie man sie an christlichen Frauen mittleren Alters sieht“ oder „Neben ihr sah Tom wie ein plumper Brite aus.“ Zu fragen wäre hier nur: Wie sieht denn ein plumper Brite eigentlich aus? Und ist hier ein sich gerade in seinem Königreich befindender Brite gemeint, oder eher einer, der sich in einer Alkohol-Laune seinem Urlaubsvergnügen widmet? Herr Finck, wie sieht denn ein plumper Brite für Sie aus?
Der Einblick in das Innenleben der Figuren bleibt dem Leser oft verwehrt, sodass sie ihm womöglich ebenso unergründlich vorkommen mögen, wie die Gedankengänge aller anderen Menschen in unserer Welt. Die Handlung ist trotz einer hohen Anzahl an verschiedenen Ereignissen, wie u.a. die Suche nach Jonas oder Gabrieles Unglück, schlüssig. Das einzige, was einen stutzig werden lässt, ist die auffällige Menge an Zufällen, die immer geballt und präzise getaktet vorkommen.
Anders als viele Bücher der Gegenwartsliteratur fordert der Roman seinen Leser heraus, eigene Schlüsse zu ziehen. Der Leser soll sich wundern. Der Roman führt ihn an der Nase herum und spielt mit ihm Verstecken, wobei er sich als der wahre Künstler des Irreführens entpuppt. (Dagegen sind die Ereignisse in Frankreich schnell durchzuschauen.) Und er zeigt, dass das Leben in der materialistisch geprägten Gesellschaft nicht einfach ist. Dennoch ist es in dem Text keine belehrende Stimme wahrzunehmen. Keiner versucht hier alles restlos zu erklären. Keiner sagt, was man zu tun oder zu denken hat. Vielleicht eben aus diesem Grund regt der Roman die Gedanken an, und zwar darüber, wie unsere Gesellschaft wirklich funktioniert.
In so gut wie jeder Stadt sind Tag ein Tag aus unzählige Gruppen von Jugendlichen zu sehen, die ihre Absage an die Gesellschaft durch ihre aufwändig auf alt gemachte Kleidung und auffallendes Verhalten zelebrierend demonstrieren. Was ist aber mit denjenigen Mitgliedern unserer Gesellschaft, die sich im Stillen zurückziehen und von außen betrachtet ein ruhiges, doch im Inneren ein von Erwartungen, Geboten und Verboten geleitetes, leidvolles Leben führen? Darüber nachzudenken lohnt sich. Dieses Buch ist daher jedem Gesellschaftskritiker nahezulegen, da er dort auf seine Kosten kommt. Aber auch diejenigen, die einfach ein gelungenes Buch lesen möchten, werden die Lektüre dieses Romans sicherlich nicht bereuen.
[ David Finck – Das Versteck
256 Seiten, 2014, gebunden, 19,95 €]
Lesens- und Sehenswertes:
Rezensionen: FAZ, Perlentaucher
Auftakt:
„ Wenn ein Mann halb nackt in der Küche sitzt und ein Glas Milch trinkt, weil er nicht schlafen kann, muss das noch lange nicht heißen, dass die Geschichte tragisch endet.“

© Das Vorzimmer
David Finck wurde 1978 in Düsseldorf geboren und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Unter anderem ist er Co-Autor des Drehbuchs zu dem Kinofilm »5 Jahre Leben« (2013). Er lebt mit seiner Familie in Berlin und Brandenburg. DAS VERSTECK ist sein erster Roman.
2014 wurde er mit dem Förderpreis Literatur der Landeshauptstadt Düsseldorf ausgezeichnet.