„Alles ist jetzt und alles wie immer.“
Eines habe ich von diesem Roman gelernt: Ich mag definitiv keine passiven Protagonisten. Hier ist das natürlich Absicht. Ingrid ist die personifizierte Passivität. Lässt alles mit sich machen, lässt das Leben auf sich regnen. Lässt sich wecken, lässt sich vögeln, lässt sich Drogen einflößen, damit sie bei einer Live-Sex-Show mitmacht, weil sich das einer der Kunden doch so sehr wünscht. Obwohl sie da doch eigentlich nur als Bedienung hinterm Tresen arbeitet…
In kurzen Sätzen wird man in Ingrids Leben hineingesogen. Es ist nicht angenehm. Man liest, wie sie sich zwingen muss, aufzustehen und zu essen. Liest von Episoden aus ihrer Vergangenheit mit Mutter Gabriele, die gern mal zu viel trinkt. Liest vom ewig gleichen, sich wiederholenden Ablauf ihrer Tage, und selbst beim jährlichen Wiedersehensritual mit ihrem Vater Werner, der damals davonging.
„Und, sagt Werner, indem er ihr das Gesicht zuwendet, du? Jetzt!, weiß Ingrid und schließt die Augen. Kellnerst du noch?
Ingrid öffnet langsam den Mund. Nelken quellen hervor, ein Schwall gelber Blüten ergießt sich über den Tisch.“
Das ist die einzige Stelle, bei der ich grinsen musste beim Lesen. Die mir gefallen hat.
Vielleicht tue ich Julia Wolfs Debüt Unrecht. Ja, es gibt eine Übereinstimmung von Inhalt und Sprache. Ja, es entsteht ein gewisser Sog beim Lesen. Aber auch nur, weil alles so sinnlos und trostlos ist und man hofft, Ingrid würde sich berappeln und nicht mehr alles einfach so geschehen lassen. Die Sprache ist auffällig in ihrer Knappheit: So kurz gehalten sind die Sätze, dass manchmal ganze Teile davon wegfallen und der Satz im grammatikalischen Sinne fast kein Satz mehr ist.
Ingrids Geschichte will in ihrer knappen Düsternis überzeugen, von der Distanz zwischen der Figur und der Welt um sie her erzählen. Das gelingt insofern, dass ich nachvollziehen kann, dass Ingrid an ihrer Vergangenheit leidet, die für sie noch immer so gegenwärtig ist, als wäre alles jetzt. Ich lese auf jeder Seite davon, WIE wenig verbunden sie sich mit dem Leben und ihrer Umgebung fühlt. Das geht sogar so weit, dass ich selbst keine Verbindung herstellen kann. Mich lässt das Schicksal dieser Figur kalt und ich lese teilnahmslos von ihrem Leiden. Eher bin ich genervt von ihrer passiven Art, woran auch der Schluss nichts ändert, als sie offenbar beginnt, dieser Rolle zu entfliehen.
Im Interview erwähnt die Autorin, dass sie in Siri Hustvedts frühen Romanen ein literarisches Vorbild sehe. Tatsächlich kann man in der bloßen Tatsache, dass beide von „weiblichen Entwicklungsgeschichten“ schreiben, eine Parallele sehen. Im Vergleich verbleibt ihre Figur Ingrid jedoch im Eindimensionalen, während Hustvedts Lily Dahl oder Iris (in „Die unsichtbare Frau“) vielschichtige Frauenfiguren sind, die sich in ihren Identitäten ausprobieren und nicht in ihrem Leiden versinken. Auch stilistisch sehe ich keinerlei Bezüge zu der von mir sehr geschätzten Siri Hustvedt.
Sicher mag Julia Wolf einen ihr ganz eigenen Stil gefunden haben, um Ingrids Leiden an der Welt zu verdeutlichen. Allerdings war ich froh, als die Lektüre vorbei war.
Mir hat diese Geschichte von einer „jungen Frau, die sich ihren Dämonen stellt“ (FVA) letztlich wenig gegeben. Und das liegt weniger daran, dass ich immer einfache, beruhigende Geschichten bräuchte (ganz und gar nicht), sondern mehr an dem Eindruck des Vergeblichen, der nach dem Lesen blieb: Wozu habe ich dieses Buch nun gelesen? Wenn die einzige Antwort ist, um zu lernen, dass ich keine passiven Protagonisten mag, ist mir das zu wenig.
[Julia Wolf – Alles ist jetzt
159 Seiten, 2015, gebunden, 19,90 €]
Lesens- und Sehenswertes:
Auftakt:
„Über mir wiegen sich Maiskolben im Wind. “
Julia Wolf schreibt Prosa und Szenisches für Theater, Radio und Film. Ihr Theaterstück „Der Du“ wurde am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt und von ihr selbst für den WDR als Hörspiel inszeniert. Darüber hinaus hat sie andere Hörspiele geschrieben und realisiert. Sie war zu den Werkstatttagen des Wiener Burgtheaters und den Autorentheatertagen am Deutschen Theater eingeladen. In Kooperation mit der Berliner Produktionsfirma Rohfilm entwickelt Julia Wolf ein Drehbuch für einen Spielfilm und erhielt hierfür Förderung der Filmförderanstalt FFA.
Julia Wolfs Debütroman „Alles ist jetzt“ (FVA 2015) wurde mit dem Kunstpreis Literatur 2015 der Brandenburg Lotto GmbH ausgezeichnet.