„Die ganze Stadt in Aufruhr. Die Zeitungen, die Schlagzeilen. Das Lokalfernsehen. Die Nachricht weltweit. Der Berliner Wolf. Völker schaut auf diese Stadt, wie hat sie sich verändert. Dieser Wolf ist ein Berliner.“
Ein bekannter Dramatiker schreibt seinen ersten Roman und landet prompt auf der Nominierungs-Liste zum Preis der Leipziger Buchmesse. Der Titel von auffälliger Länge klingt erstmal vielversprechend: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Das lässt an Erzählungen denken, denen ein denkwürdiger Tag zugrundeliegt, an ein besonderes Ereignis, das – sei es auch nur im Leben eines Einzelnen – alles verändert… Bei Schimmelpfennig ist es ein Wolf, der sich auf den Weg nach Berlin macht, ebenso wie einige weitere Figuren.
Berlin und der Wolf – das sind die beiden verbindenden Motive, um die sich der Reigen verschiedenster Personen im Roman reiht. Da sind die beiden Jugendlichen Elisabeth und Micha, die sich spontan aus der Provinz auf den Weg nach Berlin machen, anstatt morgens den Schulbus zu nehmen. Die Mutter des Mädchens und der Vater des Jungen folgen ihnen unabhängig voneinander nach Berlin, um sie zu finden. Und dann sind da noch das polnische Pärchen Tomasz und Agnieszka. Er fotografiert auf dem Weg nach Berlin den Wolf am Straßenrand, sie ist Putzfrau und verkauft sein Bild an die Zeitung. Die Späti-Besitzer Charly und Jackie spielen noch eine Rolle. Und noch einige weitere Randfiguren.
Alle begegnen sich mehr oder weniger zufällig irgendwann innerhalb der Geschichte(n) in Berlin. Sie alle verbindet der Wolf, der auch in Berlin ankommt und dort vielerorts gesehen wird. Alle Figuren in diesem Wolfsreigen hadern mit sich und ihrem Glück: Sie trinken zuviel, suchen nach Glück oder einem Neuanfang oder der großen Chance… Es könnte ein Roman mitten aus dem Leben sein. Mit beispielhaften Geschichten von Personen, die für unsere Zeit und unsere Gesellschaft stehen. Doch es ist ein Roman, der aus konstruierten Zufallsbegegnungen im Dorf Berlin besteht, aus Geschichten, die weder bewegen, noch nachdenklich stimmen, noch irgendetwas anderes. Selbst der Wolf kann nicht symbolhaft ausgedeutet werden, er tapert – vermutlich auf Rudelsuche – zufällig durch die Hauptstadt und versetzt alle in Aufruhr. Grundlos.
Grundlos scheinen auch der eine oder andere literarische Kunstgriff, derer sich der Autor bedient: Die zwei flüchtigen Jugendlichen erhalten nach ihrer ersten Erwähnung Namen, die aber zwischenzeitlich ungenannt bleiben, sodass es stets die Mutter des Mädchens und der Vater des Jungen sind, die nach den beiden suchen. Ein Grund für diese Unterschlagung der Namen hat sich mir nicht erschlossen. Bei manchen Figuren fragte ich mich darüber hinaus nach ihrer Relevanz für das Geschehen im Roman.
Fehlt es an Inhalt und Bedeutung der Handlung, sticht ja zuweilen in Debütromanen die Sprache besonders hervor und verzaubert den Leser so, dass er über den Rest hinwegsehen mag. Leider ist der Autor an dieser Stelle konsequent und erzählt auf stocknüchterne und lakonische Weise seine unprätentiöse Geschichte. Das mag zu Beginn seinen Reiz haben, verliert sich jedoch im Verlauf der müden Handlung. Oder wie sich der Rezensent Hugendick in der ZEIT ausdrückt: „Vor allem [ist] Schimmelpfennigs Buch sprachlich ein einziges Ärgernis […]. So deutlich man die stilistische Absicht erkennt, so deutlich spürt man auch die Anstrengung, die den blutleeren Hauptsätzen zugrunde liegt. Wo jede Zeile, jeder Satz unter existenzieller Kälte erzittern sollen, verwandelt sich Lakonie in pathetisches Geraune, das unentwegt mit seinen Leerstellen kokettiert, bis das Ungesagte vom Nichtssagenden nicht mehr zu unterscheiden ist.“
Das Ganze klingt im Roman wie folgt:
„Icke hatte angefangen, die Wände seiner Wohnung vollzuschreiben. Nicht nur die Wände, auch die Türen, die Zargen, die Fensterrahmen, die Möbel. Der Junge verstand nicht viel davon, aber das Ganze – oder Teile – lasen sich wie ein Liebesgedicht oder eine Totenklage. Icke sprach oft von einem Mädchen, Maria, das er zufällig kennengelernt hatte, am Alexanderplatz. Maria hatte gesagt, er könne bei ihr in der Lychener einziehen. Sie hatte ihm die Schlüssel gegeben, und dann war er in der Lychener eingezogen, aber Maria war verschwunden, und sie kam nie mehr zurück. Er hatte sie nie wiedergesehen.“
So bleibt von diesem Roman nicht viel – nur viel unbegründeter Aufruhr um einen Wolf und diesen Roman über ihn. Beide tauchen auf und verschwinden wieder.
Der Fischer-Verlag stellte zum Rezensionsexemplar eine Broschüre zur Verfügung, in der es heißt: „Solche elementaren Spannungen zwischen heiß und kalt, Licht und Dunkelheit, Feuer und Schnee, aber auch insgesamt die Mischung aus kühler Sprache und Emotion – all das hat mit Roland Schimmelpfennigs zentralem Anliegen zu tun: nämlich von Menschen zu erzählen und uns Menschen, uns ganz normale Leserinnen und Leser, mit diesem Erzählen auch zu erreichen und zu berühren.“ Mich hat Schimmelpfennigs Prosa weder erreicht noch berührt. Und ich bezweifle, dass es ausreicht, das Ziel, den „ganz normalen Leser“ zu berühren, lediglich mit der Herstellung elementarer Spannungen erreichen zu wollen.
[Roland Schimmelpfennig – An einem klaren, eiskalten Januarmorgen
zu Beginn des 21. Jahrhunderts
256 Seiten, 2016, gebunden, 19,99 €]
Auftakt:
„ An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts überquerte ein Wolf kurz nach Sonnenaufgang den zugefrorenen Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen.“
Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind erschienen: ›Die Frau von früher‹, ›Trilogie der Tiere‹ und ›Der goldene Drache‹.
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