[Rezension] I. J. Kay – Nördlich der Mondberge

„Nördlich der Mondberge“ ist ein außergewöhnliches Debüt, das anzieht, abstößt, überwältigt, herausfordert und auch überfordert.

Im Zentrum von „Nördlich der Mondberge“ steht eine eigenwillige Ich-Erzählerin namens Lulu – oder Catherine. 9783462046557Manchmal heißt sie auch Kim oder Jackie oder Dawn. So uneindeutig der Name der Protagonistin ist, so wenig greifbar sind auch in manchen Momenten Handlungszusammenhänge im Roman. Formal aufgeteilt in Ouverture, drei Akte, Finale und Zugabe, verläuft die Handlung des Romans auf verschiedenen Zeitebenen. Im ersten Akt befindet sich die Protagonistin, nennen wir sie Lulu, in der erzählten Gegenwart. Sie ist Anfang Dreißig und wurde aus dem Gefängnis entlassen. Nun lebt sie in einer hart erkämpften Sozialwohnung und findet einen miesen Job in einer Donut-Fabrik.

„Der Doughnut-Job ähnelt mehr oder weniger den anderen Jobs, die ich gemacht habe: dämliche Fußbekleidung, dämliche Kopfbedeckung und die Leute völlig gesichtslos. Der Fabriklärm ist so laut, dass er beim Denken stört und man Gespräche komplett vergessen kann. Die Arbeitstische sind zu niedrig, ich muss die Beine spreizen wie eine Giraffe am Wasserloch. Meine Füße schwellen zu Größe zweiundvierzig an, und die mit Zucker und Mehl geschwängerte Luft hat schon längst meine Finger und Lippen aufplatzen lassen. Die Hitze hier drin fühlt sich eisig an, auch weil sich die Verladerampen dauernd öffnen und schließen. Ich habe einen bestimmten Arbeitsrhythmus entwickelt: Ich schalte auf Höchstgeschwindigkeit und versuche, meine achtstündige Schicht als etwas zu sehen, das sich unter meinen Füßen bewegt. Sobald ich langsamer werde, kann ich herunterfallen. Acht Stunden? Wer macht sich hier was vor? Zehn sind es, vierzehn. Niemand geht nach Hause, ehe die Doughnuts fertig sind.“

Zwischen Donut-Job und Sozialwohnung ist die Vergangenheit ständig präsent. Die Geister des Vergangenen schwirren nicht nur als Erinnerungen in Lulus Kopf herum, sie materialisieren sich in Menschengestalt. Gwen, Pete, Heath –mit ihren Besuchen halten sie Lulu fest in einer zunächst nicht näher benannten Vergangenheit und verhindern ihr Ankommen in der Gegenwart. Sie scheinen mit Lulus Gefängnisaufenthalt in Verbindung zu stehen, doch viel mehr erfahren wir zu diesem Zeitpunkt nicht.

Die erzählte Gegenwart wird immer wieder durchbrochen von Auszügen aus der Kindheit der Ich-Erzählerin. Sie lebt mit Mutter, Halbbruder und  gewalttätigem Stiefvater unter einem Dach. Während der Stiefvater alle Hausbewohner verprügelt (was der Familienhund nicht überlebt), übt die Mutter, ein gescheitertes Bühnensternchen, permanent seelische Gewalt auf ihre Tochter aus.

Gerade in den Passagen, die aus Kinderperspektive erzählt werden, fließen Wirklichkeit und Fantasie ineinander und münden in einem Bewusstseinsstrom. Als Lulu von ihrem Großvater einen Bildband über Afrika geschenkt bekommt, erweist sich dies als Schlüsselmoment. Sie sieht Löwen und Schakale in der englischen Einöde und verwandelt sich selbst in eine afrikanische Kriegerin.

„Hinter dem Pfosten hab ich ein Seil runterhängen, liegt versteckt im hohen Gras. Big Grin ist nicht leicht. Die Felsen haben schlimme Formen aus Granit, die Erde ist krümelig, und die Steine rutschen weg. Ich muss in der Balangs bleiben. Blut fängt an mit Trommeln. Finger und Zehn kennen diesen Felsen, ich quetsch mein Gesicht auf den Stein. Ich bin ein Leopard, lauf los und spring über die Spalte. Wie ich endlich auf dem großen Lächelfelsen bin, schüttle ich meinen Speer und brüll zu den Göttern. Übergerascht mich, wie viel Glück ich hab.“

Lulu nutzt nicht nur die Flucht in afrikanische Fantasiewelten, um sich von der permanenten Gewalt und dem häuslichem Elend abzugrenzen – auch die Sprache dient ihr als Mittel zur Selbstbehauptung. Auf die Frage, warum sie nicht richtig redet, antwortet sie, sie möchte „spezial“ sein. An einer anderen Stelle sagt sie darauf: „Bloß, weil’s geht“. Ihre Mutter denkt, dass Lulu nur so spricht, um sie zu ärgern. In diesem Zusammenhang sei der Übersetzer Steffen Jacobs erwähnt, vor dem ich – gerade im Hinblick auf die Sprache der Kinderperspektive – den Hut ziehe.

Bei der erwachsenen Lulu hat die Kindheit Spuren hinterlassen. Es ist nicht nur die Sehnsucht nach Afrika, die geblieben ist, sondern auch Sprachfetzen, wie „übergerascht“, die die Zeit überdauert haben.

Im zweiten Akt wird neben der erzählten Gegenwart und der Kindheit eine dritte Zeitebene eingeführt. Lulu ist Anfang Zwanzig und erzählt, wie sie Gwen kennenlernt und später bei ihrer Arbeit in einem Casino Pete und Heath begegnet.

Im dritten Akt reist sie schließlich zu ihrem Sehnsuchtsort, nach Afrika. Auch im Verlauf dieser Reise vermischen sich im Fieberwahn Wirklichkeit und Fantasie, so dass sich auf mehreren Ebenen der Kreis zu Lulus Kindheit schließt.

Es sind gerade die bewusstseinsstromartigen Passagen der Kindheit und der Afrikareise, die diesen Roman besonders und als Debütroman bemerkenswert machen, aber es sind auch genau diese Momente – neben dem ständigen Wechsel der Zeitebenen und der eigenwilligen Sprache – die über 450 Seiten wahnsinnig anstrengend werden. Bewusstseinsstrom, Wechsel der Zeitebenen, Sprache, aber auch die Darstellung des sozialen Milieus, das geprägt ist durch Gewalt, Gefühlskälte und Hundekot auf dem Wohnzimmerteppich, schaffen immer wieder Distanz zwischen Leser und Roman. Einzig die großartige Protagonistin mit ihrem Selbstbehauptungs- und Überlebenswillen schafft es, diese Distanz zu überbrücken. Nein, man empfindet kein triefendes Mitleid für ein Opfer prekärster Verhältnisse, sondern uneingeschränkte Solidarität. Und allein die Solidarität mit dieser starken Frauenfigur hat mich bis zum Ende des Romans durchhalten lassen.

[I. J. Kay – Nördlich der Mondberge

Kiepenheuer & Witsch

464 Seiten, 2015, gebunden, 22,99 €]

Lesens- und Sehenswertes:

Rezension auf Schöne Seiten

Auftakt:

„Drei Schlüssel: einer für den Haupteingang, einer für den Briefkasten an der Hauswand und einer für meine braune Wohnungstür mit den durch Fausthiebe und Brecheisen verursachten Dellen und Kratzern rund ums Schloss.“


I. J. Kay (der Name ist ein Pseudonym) wurde 1961 in Suffolk geboren. Sie lebt in Bristol und Gambia und am liebsten auf einem Boot, mit dem sie schreibend die Wasserstraßen Englands bereist. »Nördlich der Mondberge« ist ihr erster Roman; er wurde u. a. mit dem Authors’ Club Best First Novel Award 2013 ausgezeichnet und von der englischen und amerikanischen Kritik gefeiert.

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