[Rezension] Virginia Woolf – The Voyage Out

Ein Gastbeitrag von Ansgar Skoda

static1.squarespace.comDie Britin Virginia Woolf (1882-1941) gilt als die bedeutendste Autorin der englischen Moderne. Zu ihren bekanntesten Werken gehört die fiktive und utopische Biographie Orlando (1928), die seinen adligen Protagonisten über einen Verlauf von mehreren Jahrhunderte zeigt und nicht altern, jedoch sein Geschlecht wandeln lässt. Im Gegensatz zu ihrem anerkannten Spätwerk wurde Woolfs Romandebüt The Voyage Out (1915) weniger beachtet und oft als komplexes Frühwerk abgetan. Das Debüt der Schriftstellerin, welches bereits eine Vielzahl literarischer Ideen und Themen der Autorin aufzeigt, wird Euch hier vorgestellt.

In ihrem 1924 in Cambridge gehaltenen Vortrag Mr. Bennett and Mrs. Brown verteidigt Woolf die Notwendigkeit bruchstückhafter, experimenteller und schwer verständlicher Prosa im Sinne eines unvermeidlichen Zerbrechens alter, überlebter Konventionen. Ihre Tagebücher, Briefe und autobiographischen Essays zeugen von ihrer vehementer Ablehnung gegenüber jeglicher Form von Fremdbestimmung und Herrschaft. Sie selber schreibt Bewusstseinsromane, im Sinne einer Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinserhellung.

Bereits in jungen Jahren wird Virginia Woolf, geborene Stephen, durch Todesfälle in ihrer Familie geprägt. Ihre Mutter stirbt, als sie 13 Jahre alt ist. Die Stiefschwester Stella Duckworth zwei Jahre später. Ihr Vater stirbt, als sie 22 ist und zwei Jahre später stirbt auch ihr Bruder. In ihren Romanen verarbeitet Woolf diese frühen und einschneidenden Konfrontationen mit dem Tod.
Die Arbeit an ihrem ersten Roman, welcher damals noch den Arbeitstitel Melymbrosia trug, hatte sie 1907 begonnen. Das Manuskript wurde nach sieben Überarbeitungen 1913 fertig gestellt und das Werk wurde nach einer psychischen Krise und zwei Selbstmordversuchen der psychisch labilen Woolf 1915 im Verlag ihres Halbbruders Gerald Duckworth veröffentlicht.
Autobiographische Tendenzen sind nicht nur auf Figurenebene der Protagonistin erkennbar, sondern auch viele der anderen Charaktere basieren, der Forschung zufolge, auf Personen aus Woolfs persönlichen Freundes- und Bekanntenkreis. Bezeichnenderweise kritisiert Woolfs Protagonist Terence, einer von vielen literarischen Figuren des Romans, die eingeschränkte Erwartungshaltung und den Autobiographieverdacht des Lesers an einen Roman:

„All you read a novel for is to see what sort of person the writer is, and, if you know him, which of his friends he put in. As for the novel itself, the whole conception, the way one’s seen the thing, felt about it, made it stand in relation to other things, not one in a million cares for that.“

Reisebekanntschaften, Mentorfiguren und erste Erfahrungen in der Liebe

Die 24-jährige Rachel Vinrace, die nach dem Tod ihrer Mutter behütet bei ihren beiden Tanten in Richmond aufgewachsen ist, sammelt während einer mehrwöchigen Reise auf dem Schiff ihres Vaters und während eines mehrmonatigen Aufenthaltes in einer englischen Kolonie von Santa Marina erste Erfahrungen in der Liebe.
Rachels Tante und Reisebegleitung Helen stellt eine erste zuordenbare Mentorfigur für Rachel dar. Obwohl Helen gesellschaftlich vorgegebenes weibliches Rollenverhalten repräsentiert und vorlebt, hinterfragt und unterläuft sie es gleichzeitig wiederholt auf destabilisierende Weise. Auch der junge Schriftsteller Terence Hewet und sein intellektueller Freund John St. Hirst bieten Rachel, in ihren selbstgewählten Rollen der intellektuellen Förderer, Gegenmodelle zum traditionellen Verhältnis der Geschlechter, die auf einer Gleichwertigkeit zwischen Mann und Frau beruhen. Auf der bloßen Handlungsebene jedoch bleiben die weiblichen Figuren in ihrem gesellschaftlichen Bewegungsspielraum eingeschränkt und den männlichen Figuren untergeordnet. Dieses Missverhältnis zeigt auf, dass die von den unkonventionellen Perspektivträgern Terence, Helen, St. John und Rachel entworfene gleichberechtigende Welt nicht der tatsächlichen Textwelt entspricht. Rachels Selbsteinschätzung lässt in ihrer Entwicklung erkennen, dass sie immer weniger dazu bereit ist, ihre individuellen Bedürfnisse den gesellschaftlichen Erwartungen unterzuordnen. Durch die Fieberkrankheit Rachels enthüllt sich auch für die Protagonisten St. John und Terence ihr bisheriges Gefühl der Sicherheit in einer vermeintlich stabilen Welt als Phantom. So meint Terence:

„He had never realised before that underneath every action, underneath the life of every day, pain lies, quiescent, but ready to devour, he seemed to be able to see suffering, as if it were a fire, curling up over the edges of all action, eating away the lives of men and women.“

St. John versucht wiederholt seine Mitmenschen als Symbole zu betrachten und erklärt beispielsweise: „The truth of is one never is alone, and one never is in company“

Eine komplexe Reise in den Tod

Die Beziehung zum männlichen Helden in seiner Doppelfunktion als Mentor und Geliebter respektive Ehemann werden im Unterschied zu früheren Initiationsromanen Jane Austens (1775-1817) nicht als Endziel des Initiationsprozesses und zukünftiger Lebensmittelpunkt bestätigt, sondern durch den Tod der Protagonistin hinterfragt.

Einem harmonischen Ausgleich zwischen ihren individuellen weiblichen Bedürfnissen und den Erwartungen der viktorianischen Gesellschaft wird durch ihren Fiebertod vor der Eheschließung mit Terence entgegengewirkt. Im Zentrum der Handlung stehende Fragen nach der gesellschaftlichen Situation verheirateter und unverheirateter Frauen, nach Partnersuche und der Rollenverteilung der Geschlechter werden auf Figurenenebene durch unterschiedliche Perspektivträger mit divergierenden Meinungen vertreten. Die Unterschiedlichkeit der dargestellten Figuren in Alter, Individualität, Geschlecht, Bildung und Werten lässt naturgemäß eine perspektivische Kluft zwischen ihnen entstehen.

Gudrun Rogge-Wiest, die die unsichere und fragende Figur der Rachel aus tiefenpsychologischer Sicht untersucht, erklärt, dass Rachels Stimmungen in einer Stetigkeit von Zuständen des Selbstverlusts in Stimmungen der Selbstzentriertheit umschlagen und das ihr Tod, gleichsam einem Gefühlserlebnis jenseits der Grenzen zwischen den Individuen, als Flucht vor den Spannungen einer Subjekt-Objekt-Trennung verstehbar ist, welche mit der Einlösung ihres Heiratsversprechen gegenüber Terence verbunden wäre.
Dass, je nach Bewusstseinszustand Ereignisse bei Figuren einander entgegengesetzte Wirklichkeiten auszulösen vermögen, belegt sie an dem Beispiel eines Kusses durch Rachels Reisebekanntschaft Richard Dalloway, der bei Rachel ein Gefühl der Ekstase hervorruft und sie glauben macht, in eine tiefere Realität zu blicken, bei ihr gleichzeitig jedoch auch eine tiefe, schmerzliche Verwirrung und Angst verursacht.

Das konservative Ehepaar Richard und Clarissa Dalloway, welche als vorübergehende Reisegesellschaft an Bord der Euphrosyne Bekanntschaft mit den Vinraces und den Ambroses schließen, wird in Woolfs später entwickelten Roman Mrs. Dalloway (1925) erneut aufgegriffen und die beiden Charaktere gewinnen im letztgenannten Werk, im Zentrum der Handlung stehend, an Tiefe.

Aufbau und Form des Werks

Hans-Ullrich Seeber, Herausgeber der Englischen Literaturgeschichte, bezeichnet Woolfs ersten Roman als „freilich noch konventionell“. Erzähltechnische Kongruenzen, die Woolfs Erstlingswerk mit ihren Folgeromanen teilt, sind jedoch das Zurücktreten der äußeren Handlung gegenüber der psychologischen Entwicklung der Hauptfiguren und das Schema des ‚experiencing‘, welches die Gedanken der Charaktere in einer vorsprachlichen Bewusstseinsebene evoziert. Auch der Verzicht auf, für englische Romane des 19. Jahrhunderts typische Bewertungen des Geschehens durch die Erzählinstanz, durch Leseranreden oder Sympathieappelle sowie kryptische Referenzen zu politischen Ereignissen der Entstehungszeit des Werkes sind erzähltechnische Kongruenzen mit Woolfs späteren Romanen. Gleiches gilt für Woolfs Darstellung von so genannten „moments of being“, welche, der Autorin zufolge, das Individuum in seinem Leben in einer Art Schock von seiner alltäglichen Realität abschneiden und so die wahren Dinge hinter den Äußerlichkeiten erblicken lassen.

Aufbau und Form in The Voyage Out sind am chronologischen plot-Schema des realistischen Bildungs- und Reiseromans orientiert, folgen dem Muster des traditionellen Entwicklungsromans und beinhalten Elemente der quest und der Initiation. Das im Handlungsgeschehen zu Beginn aufgerufene Gattungsmuster des Bildungsromans gibt durch den unvorhergesehenen Tod der Protagonistin am Ende keine befriedende Hilfestellung für eine Integration der divergierenden Einzelperspektiven und modifiziert so die Konventionen des klassischen Bildungsromans. Diese Modifikation deuten Vertreter der literaturwissenschaftlichen Forschung als implizite Kritik am, die Frau benachteiligenden, Werte- und Normensystem der patriarchalisch geprägten Gesellschaft des Viktorianismus.

Verarbeitung eines negativen Selbstbildes

The Voyage Out ist vor allem als grausame, entlarvende und komplex angelegte Gesellschaftssatire zu verstehen, in der der Tod ein zentrales Motiv ist. Dieser wird, eingebunden in den Kreislauf des Lebens und der Natur, wiederholt auf unterschiedlichen perspektivischen Ebenen thematisiert. Indem Normensysteme und verbindliche Werte als diskussionsfähig und diskursabhängig infragegestellt werden, ergibt sich die Problematik, wie sich das Individuum, u. a. am Beispiel Rachels, ohne verbindliche Perspektive zurechtfinden soll. Die Ambivalenz aller angebotenen Möglichkeiten hebt die Notwendigkeit von Kommunikation und wenigstens einer partiellen gesellschaftlichen Integration hervor, der sich Rachel in ihrer Krankheit und durch ihren Tod entzieht. Woolf übt, durch das negative Ende des Todes der Protagonistin und die dadurch fehlende harmonische Zusammenführung divergierender Einzelperspektiven, implizit Kritik an den repressiven Konventionen der patriarchalisch geprägten viktorianischen Gesellschaft, was die Forschung Woolfs ersten Roman als „negativen weiblichen Bildungsroman“ einordnen lässt. In der unsicheren Position der Rachel Vinrace verarbeitet Woolf auch ein eigenes, negatives Selbsbild, Selbstzweifel und Angst vor eigenen Mängeln. Es ist schön, dass auf ihren Debütroman leichtere und optimistischere Werke wie Orlando und Mrs. Dalloway folgten.

Diese Rezension erschien erstmals hier.

Zitiert aus: Virginia Woolf – The Voyage Out, The Hogarth Press, London 1929

[Deutsche Übersetzung: Karin Kersten

Virginia Woolf – Die Fahrt hinaus

S. Fischer Verlag

448 Seiten, 2008, Taschenbuch, 9,95 €]


Ansgar2-150x150Ansgar Skoda ist Kulturkritiker, Redakteur und Social Media Manager aus Bonn. Seit vielen Jahren veröffentlicht er seine Beiträge in unterschiedlichen Medien wie beim Stadtmagazin Schnüss, der Fachzeitschrift Treffpunkt Europa und dem Online-Magazin Kultura Extra. Auf Radio Bonn-Rhein-Sieg wurden fünfzig einstündige Radiosendungen von ihm ausgestrahlt. Auf seinem Blog findet ihr die Vielfalt seiner gebündelten Beiträge zu den Themen Politik, Gesellschaft und Kultur etc.

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