Emanuel Maess᾽ Debütroman „Gelenke des Lichts“ unterscheidet sich von den meisten Debütromanen der Gegenwartsliteratur. Doch schießt er dabei nicht über das Ziel hinaus?
Am 20.9.2019 wird der Franz-Tumler-Preis für den besten deutschsprachigen Debütroman in Laas verliehen. Wie in den Jahren zuvor werden wir die Verleihung vor Ort verfolgen, doch zuvor stelle ich jeweils die Autoren und die Autorinnen in einem Interview und Statements zu ihren Romanen sowie die nominierten Romane in einer kleinen Besprechung vor.
Der Ich-Erzähler, Spross einer gutbürgerlichen Familie (Vater – Pfarrer, Mutter – Landärztin), schreibt seine Bekenntnisse auf (die Verbindung zu Augustinus᾽ Bekenntnissen ist nicht zuletzt durch das vorangestellte Motto hergestellt), in denen er einerseits die unglückliche Liebe zu Angelika, seinem „Engel“, und andererseits seinen Bildungsweg beschreibt. Zwar hat er kein Glück in der Liebe, denn Angelika verlässt ihn immer wieder unter dem Vorwand, sie gehörten verschiedenen Welten an, dagegen aber umso mehr Erfolg an der Uni, wo ihm alles ohne jegliche Mühe zuzufliegen scheint. Es ist eine Mischung aus Coming-of-Age und Campus-Roman. Konzipiert ist der Roman als eine Form des inneren Monologs, als ein Selbstgespräch unter dem Deckmantel der Du-Form, mit der seine „Geliebte“ angesprochen wird.
Der erste Satz:
„Vor einigen Jahren, als ich einen Abend lang vergeblich auf Dich wartete, ergab sich die Gelegenheit, wieder einmal einem Mond zuzusehen.“
Die Sprache des Romans ist umständlich und zuweilen artifiziell, dennoch überzeugt sie mit ihrer ästhetischen und rhetorischen Gestaltung. Die Sätze sind präzise komponiert und dem Roman angemessen, denn ihre Funktion besteht primär darin, die Eloquenz des Ich-Erzählers zu betonen. Sekundär dient sie wohl dessen Selbstbeweihräucherung.
„Gnadenlos desavouierten Frankfurter Schüler noch immer meine kleinbürgerlichen Verblendungszusammenhänge, erinnerten zehn Jahre nach der Wende an die Lage der Arbeiterklasse, den amerikanischen Neo-Kolonialismus und Kryptofaschismus, was mir fast Proust᾽sche Momente einer mémoire involontaire bescherte.“ (S. 92)
Um die gesellschaftliche Relevanz des Romans sicherzustellen, verarbeitet der Roman gleich mehrere All-time-favorite-Themen der Gesellschaft: Die Wiedervereinigung Deutschlands (Als ostdeutsches Kind lebte er einst „am Rand der Welt“, S. 49), die Klassengesellschaft (seine geliebte Angelika stört der soziale Unterschied zwischen ihnen, verlässt den Ich-Erzähler und geht anschießend eine Beziehung mit einem Lebensmittelkontrolleur ein, S. 110), das individuelle Schicksal, Gott und Kirche (z.B. „Dass sich im Himmel jemand um mich kümmerte, mochte wohl sein, wenn es die Eltern sagten. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass von oben zu wenig Rückmeldung und klare Ansagen kamen.“ S. 53) und nicht zuletzt die an vielen Stellen geübte Kritik am deutschen Bildungssystem. Um die Philosophie- und Literatur-Insider zu belustigen, gibt es hier und da ironische Bemerkungen, wie z.B. „Verglichen mit dem Sphärenprojekt, das ihm vorschwebte, habe Sloterdijk nur Blasen produziert.“ S. 98. Auch zahlreiche Anspielungen auf Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang von Goethe, auf die Romantik u.v.m. können das Werk in eine wahre Zitatengrube verwandeln. Doch die gesellschaftliche Relevanz eines Literaturwerkes stellt sich letztendlich nicht durch das bloße Heranziehen gesellschaftlich relevanter Themen ein, sondern durch einen kritischen Beitrag zu den gesellschaftlich geführten Diskursen. Und dieser ist hier leider nicht deutlich genug erkennbar.
Dennoch ist dem Roman handwerklich wenig vorzuwerfen. Die Handlung ist stimmig und mit einer gewissen Dichte der Motive, auch wenn das Ende sehr abrupt kommt. Der Text geht gut mit der Spannung um und erlaubt eine flüssige Lektüre. Erfrischend ist auch die Du-Form des Romans, auch wenn sie an einer oder zwei Stellen aus ihrem eigenen Rahmen fällt („Ich dachte kurz an Angelika, die mir aus ähnlicher Rücksicht dauerhaft fernbleiben wollte.“, S. 246) sowie eine von den gewohnten Darstellungsweisen abweichende Verarbeitung der Jugendliebe.
Dies sind wahrscheinlich einige der Gründe, warum dieser Roman auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis 2019 geschafft hat.
Zudem ist das Buch für „Das Debüt“ Bloggerpreis für Literatur für das beste Debüt des Jahres eingereicht worden.
Interview mit Emanuel Maess
August 2019
Wie lange hast du an dem Roman gearbeitet?
Viel zu lange, um das noch genau sagen zu können. Letztlich sind mehr oder weniger meine ganzen 30er im Schlagschatten dieses ja doch ganz übersichtlichen Büchleins vorbeigezogen.
Wie schwer gestaltete sich die Verlagssuche?
Es war nicht ganz leicht, die Verlage von diesem Buch zu überzeugen, und man kann sie auch verstehen: Kein historischer Stoff, keine Stimme der neuen Generation, keine realistische Milieuschilderung, keine Randgruppenthematik, nicht mal ein ordentlicher Plot, kaum ein aktueller Gesellschaftsbezug, dagegen hochgefahrene Zuspätromantik, halbironische Dissonanzen, Bildungshuberei und religiöse Phantasmen: Wem soll man das heute verkaufen?
Was war es für ein Gefühl, dein fertiges Buch in Händen zu halten?
Ein größeres Befremden, das über einige Tage dann aber echten Vaterfreuden wich. Es ist ganz ähnlich wie mit dem eigenen Kind, das einen ja auch zunächst etwas zerknautscht und unverwandt ansieht.
In deinem Roman sprichst du leise u.a. ein aktuelles Thema unserer Gesellschaft an: die Klassenunterschiede. Inwieweit ist dein Roman Zeugnis unserer Zeit?
Mein Held ist vieles, aber ganz bestimmt nicht auf Höhe seiner Zeit. Er wächst in einer Pfarrhaus-Nische zu DDR-Zeiten auf, die noch mit den Bildungsgütern der Klassik und Romantik gefüllt ist, wird also Opfer einer gewissen weltanschaulichen Epochenverschleppung. Aber aus größerer Distanz sieht man (ähnlich wie ein Schelm oder Picaro) manchmal mehr. Die Klassenunterschiede, die er wahrnimmt, ergeben sich weniger aus Fragen des größeren oder kleineren Geldbeutels oder einer höheren oder niedrigeren Gesellschaftsschicht (obwohl es die natürlich auch gibt), sondern sind eher Klassenunterschiede des Geistes, der Begeisterung, der Selbstverzauberung, des lustvollen Selbstverlustes in Landschaften, Musik, Dichtung oder im Erotischen. In der Fähigkeit, sich den Horizont offen zu halten und sich hin und wieder noch einmal zu wundern. Insofern ist es, wenn überhaupt, ein Buch gegen die rasenden Tendenzen seiner Zeit. Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird bald Witwer sein (Kierkegaard).
Dein Stil ist durch präzise und raffinierte Sprache gekennzeichnet. Warum hast Du dich gegen die Alltagssprache entschieden? Hattest Du keine Angst davor, Deine Leser zu überfordern?
Ich lege Bücher viel häufiger aus der Hand, weil sie mich unterfordern. Ohne eine gewisse Anstrengung geht es in der Kunst nicht. Die Matthäus-Passion werden Sie auch nicht auf einer Pobacke absitzen. Die Schwierigkeit besteht darin, den Lesern die Flügel zu öffnen, sie aus ihrem Nest zu werfen (das ist der anstrengende Teil), fliegen können sie dann oft von selbst. Und zur Sprache: Wenn ich einen Roman aufschlage, möchte ich nicht denselben journalistischen Duktus wiederfinden, den ich morgens schon in den Online-Nachrichten erlebe, da muss eine andere Welt aufgehen. Die Ufer des Deutschen sind weit, und ihre Möglichkeiten von Jean Paul, Nietzsche und Arno Schmidt definiert, das kann man nicht einfach vergessen. Wir können den Menschen nicht wirklich ästhetisch erziehen, das war vielleicht zu optimistisch gedacht, aber ein bisschen verwandeln können, ja sollten wir ihn schon.
In deinem Roman verbindest Du einen Coming-of-Age-Roman mit einem Campus- Roman. Warum hast du dich für diese Verbindung entschieden?
Die Universitäten, an denen das Buch zur Hälfte spielt, sind für Millionen von jungen Leuten eine, vielleicht sogar die zentrale Agentur des Erwachsenwerdens. Mich wundert immer wieder, wieso doch verhältnismäßig wenig darüber geschrieben wird. Es scheint mir jedenfalls nicht gerade für den Zustand dieser Institution zu sprechen.
Du hast deinen Roman als eine Form von Bekenntnissen aufgebaut und dich für eine Du- Form entschieden. Warum wähltest Du diese Form?
Das ist ungewöhnlich, erschien mir aber plausibel. Besonders nach Begegnungen, die ungeklärt oder unbefriedigend verlaufen sind, sprechen wir doch häufig mit den jetzt Abwesenden noch lange weiter. Ich jedenfalls habe mit vielen Menschen in ihrer Abwesenheit längere Gespräche geführt als in ihrer Anwesenheit. Da die große Liebe des Erzählers fast schon göttliche Attribute trägt, und fast die Liebe selbst ist, könnte man fast eine heimliche Querverbindung zu Augustinus vermuten, der in seinen berühmten Bekenntnissen ja auch ein Du – seinen Gott – anspricht. Auch die viel bescheideneren Bekenntnisse des Erzählers richten sich am Ende an eine Instanz, die über ihn hinausführt und mehr von ihm weiß, als er selbst.
Gibt es Autoren oder Bücher, die dich und dein Schreiben beeinflusst haben?
Ja, zu viele, um sie aufzuzählen. Mit entscheidend für dieses Buch vielleicht Jean Paul, die deutschen Romantiker, Eckhart Henscheid, Wilhelm Raabe…
Ist ein weiteres Buch geplant?
Längst in Arbeit.
Welche Bedeutung hat der Franz-Tumler-Literaturpreis für dich?
Große Freude darüber, dass das Buch hin und wieder die Leser findet, die es angeht. Das können und werden nicht alle sein, aber auch ein paar wenige sind doch immer wieder ganz erfreulich. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich bis vor kurzem von Franz Tumler noch nichts gehört, ein bisschen peinlich, wenn man bedenkt, dass ich Literatur studiert habe. Jetzt aber lese ich ganz angeregt und mit mancher Sympathie in seinem frühen Gedichtband „Anruf“ und seiner späteren Erzählung „Nachprüfung eines Abschieds“.
Was hast du gedacht, als du von deiner Nominierung erfahren hast?
Wo, um Himmels Willen, liegt Laas? Dann habe ich nachgesehen, nämlich ganz in der Nähe von Naturns, wo es in der Kirche St. Prokulus uralte, ganz eigentümliche Fresken gibt, die ich mir dort vor zwei Jahren einmal angesehen habe. Vor allem die Engelfiguren haben eine unwahrscheinliche Ausstrahlung, weil sie einen durch tausend Jahre und eine steingewordene Ewigkeit hindurch ansehen. Und Engel sind – mit einer aus Rilkes zweiter Duineser Elegie geborgten Metapher – eben die „Gelenke des Lichts“. Das war doch, fand ich, ein ganz gutes Omen.
Vorstellung in Büchern
Nenne ein wichtiges Buch…
…aus deiner Kindheit:
Michael Ende: Die unendliche Geschichte.
… aus deiner Jugend:
Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers.
… aus deiner aktuellen Lebensphase:
John Cowper Powys: Wolf Solent.
…, das du dir für die Gegenwartsliteratur wünschen würdest, das aber noch nicht geschrieben wurde.
Einen erotischen Roman, der phänomenologisch und nicht pornographisch vorgeht. Ich bin dabei, das zu ändern…
[Emanuel Maess – Gelenke des Lichts
254 Seiten, 2019, gebunden, 20,00 €]

Foto: Anno Dittmer
Emanuel Maeß, geb. 1977 in Jena, Studium der Politologie und Literaturwissenschaft in Heidelberg, Wien und Oxford. »Gelenke des Lichts« ist sein literarisches Debüt. Ein Auszug wurde vorveröffentlicht in »Sinn und Form«.
Pingback: [Literaturpreis] Angela Lehner „Vater unser“ gewann den 7. Franz-Tumler-Literaturpreis! Lola Randl „Der grosse Garten“ bekam den Publikumspreis. | Das Debüt