Der Roman lässt über die Frage nachdenken, ob es zulässig sei, für das eigene Glück einen anderen Menschen ins Unglück stürzen zu lassen. Schuld ohne Sühne? Geht das?
Am 20.9.2019 wird der Franz-Tumler-Preis für den besten deutschsprachigen Debütroman in Laas verliehen. Wie in den Jahren zuvor werden wir die Verleihung vor Ort verfolgen, doch zuvor stelle ich jeweils die Autoren und die Autorinnen in einem Interview und Statements zu ihren Romanen sowie die nominierten Romane in einer kleinen Besprechung vor.
Der erste Satz:
Es ist Donnerstag, der zwölfte August 1999.
Der Debütroman von Niko Stoifberg erzählt eine fast unglaubwürdige, doch nicht unmögliche Verstrickung von Zufällen. Die Handlung setzt an, als der Ich-Erzähler – Sebastian – die Frau seiner Träume trifft, ihr folgt und sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Allerdings verunglückt bei dieser ersten Begegnung Lydias kleiner Bruder Milo. Ist der Ich-Erzähler für dieses Unglück vielleicht mitverantwortlich? Die Situation verkompliziert sich weiter, als Sebastian entdeckt, dass sein Vater mit Lydias Mutter (Xenia) liiert ist. Nun wird Sebastian, der als Landschaftsarchitekt arbeitet, von Xenia aufgefordert, in ihrem Hotel einen Wanderweg neu zu gestalten. Und während seines Aufenthalts in Xenias Hotel entdeckt er, dass jeder ein Geheimnis mit sich trägt.
Die Ereignisse werden aus der Ich-Perspektive beschrieben, dennoch scheinen manche Figuren allwissende Tendenzen aufzuweisen. Zuweilen entsteht sogar der Eindruck, dass alle – inklusive der Rezipient – mehr wissen als der Protagonist selbst. Zudem werden manche Informationen bewusst ausgelassen, um später auf diesen fehlenden Informationsbrocken die Spannung aufzubauen. Dieses Verfahren wendet sich allerdings gegen den Text, denn dadurch wird die Handlung an manchen Stellen voraussehbar, an anderen wiederium wirkt die Motivation der Handlung unglaubwürdig (Wie z.B. Sebastians Reaktion auf Xenias Aufforderung, den Wanderweg neu zu gestalten). Wie dies in der Gegenwartsliteratur immer öfter anzutreffen ist, gibt es auch in diesem Roman keine ins Extreme gesteigerte Klimax, sondern mehrere kleine Wendepunkte der Handlung. Des weiteren unterscheiden sich beide Hälften des Romans im Tempo und der Dynamik des Erzählens voneinander. Und wer also eine langsame Plotentwicklung bevorzugt, wird hier auf seine Kosten kommen.
Die Sprache des Romans speist sich aus der Alltagskommunikation, was zum einem an den Selbstgesprächen des Ich-Erzählers liegt und zum anderen durch zahlreiche Dialoge bedingt wird.
Als ich wieder zu mir komme, hält sie mich umklammert. Sie. Sie drückt den Kopf an meine Brust, als wollte sie sich dran ersticken. Ich bleibe am Boden sitzen, kann mich ohnehin kaum regen, lege dann auch meinen Arm um sie, so sachte, wie ich kann. Sie atmet warm an meinen Hals; während die Kälte in mir hochkriecht. Regen prasselt unentwegt, der Wind treibt ganze Bäche vor sich her, sie fließen um den Bub rum. Neben ihn, da kniet ein Mann. Der mann befühlt den schlaffen Körper, hebt ein Ärmlein hoch, den kleinen Kopf, die schweren Augenlider. Ich muss meine schließen.
Eine äußerst interessante Figurengruppe dieses Romans bilden die „Ouvriers“ oder die Ausgestoßenen aus der Gesellschaft: Es sind Menschen, die nirgendwo anders einen Job gefunden hätten und in Xenias Hotel in der Küche oder im Service arbeiten. Doch der Anschein Xenias Barmherzigkeit soll hier nicht trüben. Denn sie bedient sich dieser Menschen hauptsächlich für eigene Zwecke und lässt sie nur im Verborgenen leben und wirken.
Es fliegen Schatten durch den Tunnel, Hände greifen nach den Sprossen und der Schacht füllt sich mit Köpfen. Jener, der zuerst auftaucht, sieht aus wie – wie ein Alien: Er ist sehr klein und dünn, ist zugleich alt und jung, mit kahlem Schrumpfkopf. Ich will hallo zu ihm sagen, als bereits der Nächste kommt, ein struppiger Südländer, der sich wortlos zu dem Kindergreis stellt und sofort zu Boden blickt. Sein Bartgesicht ist wund, es blättert ab, in dicken weiten Schuppen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Roman einige interessante Themen behandelt, wie z.B. Schuld ohne Sühne, ohne jedoch dabei nach der gerechten Strafe zu fragen. Vielmehr scheint es für die Figuren in Ordnung zu sein, dass jeder mindestens eine böse Tat am Gewissen hat. Interessant ist auch zu beobachten, dass die Strippenzieherin und diejenige Figur, die die Handlung bestimmt, eine weibliche Figur ist, wogegen die Männer in diesem Roman nur zu Ausführer ihres Willens werden, ohne dabei etwas zu sagen zu haben (dementsprechend kommt Sebastians Vater in diesem Roman kaum zu Wort). Ist dieser Roman ein Spiegel der aktuell erfolgenden Veränderungen und Zeichen für die Dominanz der Frauen in der heutigen Gesellschaft oder nur das Prinzip der Serendipität?
Der Roman „Dort“ von Niko Stoifberg ist für „Das Debüt“ Bloggerpreis für Literatur für das beste Debüt des Jahres eingereicht worden.
Interview mit Niko Stoifberg
September 2019
Wie lange hast du an dem Roman gearbeitet?
Wie schwer gestaltete sich die Verlagssuche?
Zum Glück gar nicht schwer. Ich bekam den Ratschlag, über eine Agentin zu gehen – Katharina Altas in Bern. Die fand den Roman zum Glück auf Anhieb gut und bekam sehr schnell überzeugende Angebote. Ich weiss bis heute nicht, ob dieser Weg über eine Agentur nötig ist – aber in meinem Fall hat er sich definitiv bewährt.
Ist dein Roman ein Sensationsroman? Warum?
Den Begriff höre ich zum ersten Mal. Ich nehme an, das hängt jetzt davon ab, ob er den Franz-Tumler-Preis bekommt. ;)
In deinem Roman scheint eine Figur – Xenia – über das Schicksal des Protagonisten zu walten, ohne dass er etwas dagegen tut. Wie frei ist deiner Meinung nach der menschliche Wille?
Ganz ehrlich: Überhaupt nicht frei. Wir tun, was wir tun, weil wir sind, wer wir sind – und wir sind ein Produkt aus unseren Genen und unseren Erfahrungen. Für beide Faktoren können wir nichts. Das ist eine schwindelerregende Feststellung, und sicher nicht eine, die man als Freipass für Taten verstehen sollte, wie sie Sebi und Xenia im Roman begehen. Tröstlich ist vielleicht, dass wir ohnehin nicht anders können, als so zu tun, als ob wir einen freien Willen hätten. Dieser Glaube ist uns quasi eingeimpft. Wir können ihn logisch widerlegen, aber wenn ich mich jetzt gleich entscheiden muss, ob ich noch einen Espresso trinke oder nicht, dann fühlt sich das an, als hätte ich die Wahl.
Welche Rolle spielen in deinem Roman die traditionellen Werte, allem voran die Familie?
Gute Frage – die ich mir komischerweise nie gestellt habe. Einerseits brechen im Roman Familiengefüge auf, auf dramatische Art. Anderseits wird im Namen der Familie vieles unter Verschluss gehalten, was eigentlich an die Öffentlichkeit müsste. Wir sind heute – zum Glück! – viel freier darin, unsere Beziehungen zu gestalten, wie wir wollen. Trotzdem sind Familienbande unverändert stark, glaube ich. Sie sind tief in unserem Innern verankert. Wer sie kappt, muss mit grossem emotionalem Stress rechnen.
Inwieweit ist dein Roman Zeugnis unserer Zeit?
Der Roman endet im Winter 1999, und in mancherlei Hinsicht markiert die darauffolgende Jahrtausendwende tatsächlich auch eine Zeitenwende. In diesem Jahr wurde das menschliche Genom entschlüsselt. Theoretisch ermöglicht uns das, uns zu einer Art Übermenschen zu machen. Erbkrankheiten, wie sie im Buch vorkommen, können wir künftig – teilweise heute schon – ausschliessen. Ob uns das als Gesellschaft insgesamt glücklicher macht, ist eine andere Frage. Ich glaube nicht. Aber ja, solche Allmachtsfantasien sind möglicherweise typisch für unsere Zeit. Sie zeigen sich auch im Kleinen: Sowohl Sebi wie auch Xenia oder Lydia haben das Gefühl, sie könnten auf sehr einfache Weise an ihre Ziele gelangen, den mühsamen Teil quasi überspringen.
Gibt es Autoren oder Bücher, die dich und dein Schreiben beeinflusst haben?
Bestimmt, aber ich habe mir Mühe gegeben, so unbeeinflusst wie möglich zu bleiben. Wenn ich etwas lese – besonders gefährlich sind richtig gute Sachen – dann fange ich automatisch an, selbst so zu denken, in ähnlichen Worten. Ob ich will oder nicht. Deshalb habe ich rund um die Schreibzeiten Puffer eingebaut und verlockende Lektüre bewusst liegen gelassen. Das hat ausserdem den Vorteil, dass mehr Zeit zum Schreiben bleibt.
Ist ein weiteres Buch geplant?
Geplant und sogar schon begonnen. Es wird eine Eifersuchtsgeschichte, geschrieben aus der Sicht einer Frau.
Welche Bedeutung hat der Franz-Tumler-Literaturpreis für dich?
Es wäre mein erster Preis – für mein erstes Buch! Natürlich würde mich das riesig freuen. Im Grunde bedeutet eine solche Preis-Nomination ja vor allem: Mindestens eine Person, die sehr viel Literatur liest, hat mein Buch richtig, richtig gut gefunden. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Wir schreiben ja letztlich alle, um verstanden zu werden. Wenn das wirklich passiert, ist es das Grösste.
Was hast du gedacht, als du von deiner Nominierung erfahren hast?
Ich habe erst mal Franz Tumler gegoogelt. ;) Aber im Ernst: Sehr berührt hat mich die Tatsache, dass Manfred Papst das Buch nominiert hat. Ich kenne ihn nicht persönlich, habe ihn nie getroffen – aber jahrelang war er einer meiner Lieblingsjournalisten. Anerkennung zu bekommen von jemandem, den man selbst verehrt, ist toll. Ausserdem war ich sehr aus dem Häuschen, als ich sah, dass der Preis im Südtirol verliehen wird. Ich finde die Gegend so grossartig, dass ich mir schon ernsthaft überlegt habe, auszuwandern. Und das heisst was, Luzern ist auch nicht übel.
Vorstellung in Büchern
Nenne ein wichtiges Buch…
…aus deiner Kindheit
Räuber Hotzenplotz.
… aus deiner Jugend
… aus deiner aktuellen Lebensphase
Marlen Haushofers «Die Wand». Meine Lektorin Elke Ritzlmayr hatte mich darauf hingewiesen, weil der Titel eine Möglichkeit für mein eigenes Buch war. Zum Glück war er schon besetzt, so konnte ich meinen eigenen Titelvorschlag «Dort» durchsetzen. Und zum Glück hab ich so Marlen Haushofer entdeckt.
…, das du dir für die Gegenwartsliteratur wünschen würdest, das aber noch nicht geschrieben wurde.
[Niko Stoifberg – Dort
328 Seiten, 2019, gebunden, 23,00 €]

Foto: Hendrik Dietrichs
Niko Stoifberg, 1976 in Luzern geboren, leitet die englische Redaktion bei getAbstract. Stoifberg hat in der französischsprachigen Schweiz Germanistik studiert und als Eisverkäufer, Kellner, Briefträger, Cartoonist und Journalist gearbeitet – letzteres unter anderem für Das Magazin, Merian und den Schweizer Monat. Eine Auswahl von Stoifbergs Kolumne «Vermutungen» erschien 2012 als Das Blaue Büchlein, Dort ist sein erster Roman.
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