Wahnsinn fasziniert. Eben diese Faszination für die Abgründe der menschlichen Psyche nutzt der Roman und liefert eine ambivalente Figur, die dermaßen berechnet und manipulativ ist, dass der Rezipient ernsthaft an ihrer Erkrankung zweifeln muss.
Am 20.9.2019 wird der Franz-Tumler-Preis für den besten deutschsprachigen Debütroman in Laas verliehen. Wie in den Jahren zuvor wird DasDebüt die Verleihung vor Ort verfolgen, doch zuvor stelle ich jeweils die Autoren und die Autorinnen in einem Interview und Statements zu ihren Romanen sowie die nominierten Romane in einer kleinen Besprechung vor.
Der erste Satz:
Man hat mir die Hände auf dem Rücken verbunden.
Als Eva eingeliefert wird, weil sie behauptet eine Gruppe von Kindern erschossen zu haben, trifft sie in der Anstalt ihren magersüchtigen Bruder Bernhard wieder. Im Laufe der Therapie erfahren die LeserInnen die Hintergründe der Störung beider Geschwister, die auf die Übergriffe des Vaters zurückzuführen sind. Dabei hat Eva nur zwei Wünsche, den Vater zu töten und den Bruder zu retten. Ob es ihr gelingt?
Die Geschichte erfahren wir von der Protagonistin und die Ich-Erzählerin Eva, wodurch die Perspektive subjektiviert wird. Stimmt es, was uns Eva erzählt? Denn sie ist nicht nur eine unzuverlässige Erzählerin, sondern wird von mehreren anderen Figuren der Lüge bezichtigt. Fällt es der Leserschaft dennoch schwer, die Figur, deren Handlungen objektiv gesehen zu tadeln wären, zu verurteilen? Dies liegt wohl an der gewählten Erzählperspektive, dank deren der Rezipient so tief in Evas Welt eintaucht, dass er unweigerlich eine Sympathie für diese Figure entwickelt. Denn Eva scheint sowohl die Figuren des Romans als auch ihre LeserInnen gekonnt um den Finger zu wickeln.
Heute bin ich in der Therapie so konstruktiv, dass ich es selbst kaum glauben kann: Ich erzähle, ich bringe mich ein, nicke mir selbst zu, wenn ich Korb etwas erkläre – eigentlich sollte man mich den anderen Irren als Musterpatientin vorführen: So hat man verrückt zu sein, genau so, und nicht anders.
Seit einer Stunde erzähle ich Korb meine Ansichten. Über alles. Was ich generell wie finde. Er soll daraus einen Querschnitt meiner Persönlichkeit erstellen und sie reparieren. Er hat ja sonst nichts Interessantes zu tun. Fast eine Stunde lang hat er sich notiert, was ich ihm gesagt habe. Auf dem Klemmbrett, das mit seinem Schoß verwachsen ist wie ein Baum mit seinen Wurzeln.
Weder das Leiden der Psychiatrie-Patienten noch der Verlauf einer Therapie sind in der Literatur etwas Neues, denn beide wurden literarisch bereits ausführlich behandelt. Erfrischend ist allerdings die Einbindung der rührenden Geschwisterliebe in die Handlung.
Dieser Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019.
„Vater unser“ ist ebenfalls für „Das Debüt“ Bloggerpreis für Literatur für das beste Debüt des Jahres eingereicht worden.
Interview mit Angela Lehner
September 2019
Wie lange hast du an dem Roman gearbeitet?
Inkl. Verlags-Lektorat: 4 Jahre
Wie schwer gestaltete sich die Verlagssuche?
Naja, plötzlich bei Hanser an die Tür zu klopfen und „Hallo, hier bin ich!“ zu rufen, stelle ich mir schwierig vor.
Ich habe seit 2015 sehr konsequent neben Studium/Job an dem Text gearbeitet und mich bei Schreibwerkstätten beworben, Texte bei Wettbewerben und Zeitschriften eingesandt usw. Der Rücklauf ist manchmal ernüchternd, aber man macht halt einen Babystep nach dem anderen. Eigentlich ist es ähnlich wie bei einem „normalen“ Berufsweg, bei dem man sich nach und nach Qualifikationen aneignet, die den Weg für die nächst höhere Stufe ebnen. Durch all diese literarischen Babysteps sind Verlage und Agenturen irgendwann von selbst auf mich aufmerksam geworden und auf mich zugekommen. Den endgültigen Schritt zum Verlag habe ich dann über meine Agentur Graf & Graf gemacht.
Dieses ständige Bewerben für Stipendien usw. ist übrigens bis heute ein wesentlicher Teil meines Schriftstellerinnen-Lebens.
Wie bist du auf diese Romanidee gekommen?
Am Anfang war die Stimme. Ich bin dieser Stimme, die ich später Eva Gruber nennen sollte, immer weiter gefolgt. Sie hat geredet und geredet und schnell sind Konflikte mit anderen Personen reingekommen. So hat sich nach und nach die Geschichte entsponnen.
Wie hast Du zu dem Buch recherchiert?
Ich hab erstmal zwei Jahre geschrieben, bis mir sehr klar war, was die Geschichte ist und die Charaktere fertiggereift waren. Dann habe ich mich bei einem Chefarzt vom Wiener-Otto-Wagner Spital gemeldet, ihm Teile der Geschichte geschickt und um eine Klinikführung gebeten. Das Gelände habe ich mir danach noch öfter angeschaut. Auch in Berlin, wo ich ja wohne, habe ich meine Figuren nochmal zu einem echten Psychiater geschickt und ihm Teile des Manuskripts von „Vater unser“ zu lesen gegeben. Der Berliner und der Wiener Psychiater waren sich (zu meiner Überraschung) einig: Alle ganz schön authentisch verrückt.
Inwieweit ist dein Roman ein Spiegel unserer Gesellschaft?
Eva Gruber ist ein Schelm. Sie tanzt am Rande der Konventionen dahin, bringt ihre Familie und ihre MitinsassInnen an ihre Grenzen – und scheint völlig außerhalb der gängigen Regeln zu stehen. Dieses Nichtdazugehören, durch das sich die Figur der Gruber ja gewissermaßen auszeichnet, prädestiniert sie dazu, den Menschen ihre „normal“ erscheinenden aber doch auch wieder absurden Verhaltensweisen zu spiegeln. „Was ist normal?“ – das ist eine Grundfrage in „Vater unser“.
Gibt es Autoren oder Bücher, die dich und dein Schreiben beeinflusst haben?
Tatsächlich habe ich beim Schreiben keine Vorbilder. Ich gehorche der Stimme, ich führe Protokoll über die Dialoge, die diese seltsamen Figuren miteinander führen. Gerne würde ich hin und wieder intellektuell hochtrabende Sätze einbauen und einen Verweis auf Bachmann oder Joyce machen, damit die Lesenden mich für besonders gebildet halten – aber das würde mir eine Eva Gruber einfach nicht durchgehen lassen.
Ist ein weiteres Buch geplant?
Theoretisch schon, praktisch schauen wir mal. Wenn mir nichts einfällt, kann ich ja vielleicht die Figuren aus „Vater unser“ noch kommerziell ausbeuten. „Bergdoktor Korb und das Alpenröslein“, „Bernhards Weg aus der Essstörung“ oder „Eva Gruber – ein Leberkäs-Krimi“. Würden Sie das kaufen?
Welche Bedeutung hat der Franz-Tumler-Literaturpreis für dich?
Ich bin stolz auf die Nominierung. Jahrelang habe ich mich gefragt, ob ich es überhaupt jemals schaffen würde, ein komplettes Buch fertigzustellen. Mit meinem Schreiben nun das Interesse einer Reihe von LeserInnen geweckt zu haben und sogar die Würdigung durch Preis-Nominierungen zu erfahren, freut mich schon sehr.
Was hast du gedacht, als du von deiner Nominierung erfahren hast?
- Super! Der Wahnsinn!
- Wie zum Teufel komme ich jetzt von Berlin nach Südtirol?
Vorstellung in Büchern
Nenne ein wichtiges Buch…
…aus deiner Kindheit
Grimms Märchen
… aus deiner Jugend
Harry Potter
… aus deiner aktuellen Lebensphase
Nadine Schneider-Drei Kilometer
…, das du dir für die Gegenwartsliteratur wünschen würdest, das aber noch nicht geschrieben wurde.
Alles wurde schon geschrieben. Ich würde mir eine Diversifizierung des Kanons wünschen. Wenn man mal aufhören würde, zu behaupten, von Frauen oder von so genannten „Minderheiten“ verfasste Werke wären nur für ebenjene „Gruppen“ interessant und diese Werke stattdessen konsequent sichtbarer machen würde, hätten wir einen sehr reichen und vielseitigen literarischen Kanon. Ich wünsche mir, dass sich alle LehrerInnen, die 2019 auf ihre Lektürelisten fürs Schuljahr schauen und merken, dass die angeführte Lektüre zu 80% von weißen, männlichen Autoren stammt, aufrichtig schämen.
[Angela Lehner – Vater unser
284 Seiten, 2019, gebunden, 22,00 €]

Foto: Paula Winkler
Angela Lehner, geboren 1987 in Klagenfurt, aufgewachsen in Osttirol, lebt in Berlin. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien, Maynooth und Erlangen. U.a. nahm sie 2016 an der Prosawerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin und 2017 am Klagenfurter Häschenkurs teil. 2018 war sie Finalistin des Literaturpreises Floriana. “ Vater unser“ ist ihr erster Roman.
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