[Literaturpreis] Angela Lehner „Vater unser“ gewann den 7. Franz-Tumler-Literaturpreis! Lola Randl „Der grosse Garten“ bekam den Publikumspreis.

Logo_Tumler_4c_WEBAlle zwei Jahre richtet die kleine Gemeinde Laas (Südtirol) den Franz-Tumler-Literaturpreis aus. Es handelt sich hierbei um einen Nominierungspreis, was bedeutet, dass jeder der fünf Jurymitglieder einen Romantitel vorschlägt, wobei ausschließlich Debütromane zur Auswahl zugelassen sind. Alle nominierten Autorinnen und Autoren werden Mitte September 2019, pünktlich zur Apfelernte, nach Laas eingeladen, um hier vor einem für die Größe der Gemeinde erstaunlich zahlreichen Publikum zu lesen und sich der Diskussion der Jury zu stellen. Franz-Tumler-Literaturpreis ist ein Beispiel dafür, wie professionell man auch einen kleinen Preis konzipieren und durchführen kann, wenn dahinter eine wahre Leidenschaft für die Literatur steht.

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Diese fünf Romane wurden dieses Jahr für den Franz-Tumler-Literaturpreis nominiert (Nach der Sitzordnung von links: Marko Dinić, Emanuel Maess, Niko Stoifberg, Angela Lehner, Lola Randl):

Die Jury bestand aus Literaturkritikern aus allen drei Ländern, aus Deutschland, Österreich und aus der Schweiz. 2019 saßen in der Jury:

Hans-Peter Kunisch (Freier Journalist und Mitarbeiter Süddeutsche Zeitung und Die Zeit, Berlin)

Manfred Papst (Literaturwissenschaftler, Redakteur und Autor, Zürich)

Gerhard Ruiss (Autor und Literaturwissenschaftler, Wien)

Daniela Strigl (Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin, Autorin, Wien)

Gabriele Wild (Germanistin, Literaturvermittlerin und Programmgestalterin des Literaturhauses am Inn, Innsbruck)

Der Franz-Tumler-Literaturpreis ist mit 8000 € dotiert. Gestiftet ist er von der Südtiroler Landesregierung und umfasst auch den Schreib- und Leseaufenthalt in Laas im Rahmen der Vinschger Literaturtage (September 2020). Der Publikumspreis ist ein Schreibaufenthalt auf dem Rimpfhof am Vinschger Sonnenberg (Gestiftet vom Verein der Vinschger Bibliotheken).

Weitere Informationen findet ihr in der Franz-Tumler-Literaturpreis 2019 Broschüre.


Jede Lesung wurde von einer Diskussion der Jurymitglieder begleitet, die in einem (meist literaturkritischen) Austausch die Vorzüge und (seltener) die Schwächen der nominierten Romane beleuchteten. Es ist ebenfalls vorwegzunehmen, dass die meisten der nominierten Bücher auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019 sowie auf der Shortlist Debüt des Österreichischen Buchpreises 2019,  bzw. diesen sogar gewonnen haben.

Den Anfang machte Marko Dinić mit „Die guten Tage“ (Zsolnay Verlag). Mit einer kräftigen und entschiedenen Stimme las er von der Rückkehr des Protagonisten in seine Heimatstadt vor.

digDie Jury-Diskussion zu dem Roman fällt insgesamt positiv aus. Im Vordergrund des Gesprächs steht zunächst die Tatsache, dass es sich hierbei um kein biographisches Buch handelt. Dies lobt an dem Roman Daniela Strigl, die in dem Roman eine Hadesüberfahrt wiedererkennt und den Ring als einen Obulus betrachtet, der für diese Überfahr geleistet werden muss. Gelobt wird vor allem die Auswahl des Textausschnittes, da man an ihm viele Vorteile des Romans sehen könne. Man spüre dem Übergang in die kaputte Seele des Protagonisten nach (Kunisch). Der Roman sei zudem eine Darstellung historischer Klaustrophobie, was literarisch mit den engen, stickigen Räumen verarbeitet wurde (Strigl). Mit dem Roman habe eine Aufarbeitung der Geschichte begonnen, was allerdings noch lange andauern werde (Wild). Manfred Papst lobt die Tatsache, dass dieser Roman nicht in eine Stereotypen-Falle tappt und nicht versucht, den geordneten und demokratischen Westen dem ungeordneten, aber emotionalen Osten gegenüberzustellen. Die Juroren sind sich jedoch nicht sicher, ob der Hass, der den Roman erfüllt, auch für diesen förderlich sei. Dies ist zugleich der meist thematisierte Kritikpunkt an dem Roman.

Die Lesung und die Jury-Diskussion zu Marko Dinić zum Nachhören:

 

sdrDie zweite Lesung erfolgt aus „Vater unser“ (Hanser Berlin) von Angela Lehner, die den Preis später an dem Tag gewonnen hat. Ihre Lesung scheint eine performative Darstellung dessen zu sein, was sie in ihrem Roman auf der verbalen Ebene realisiert: Sie scheint den Zuhörer an der Nase herumzuführen, indem sie ihn mit langen Pausen und einem äußerst langsamen Vorlesetempo dazu zwingt, den Text auszuhalten.

Die Autorin verrät, dass sie im Lektorat ca. 100 Seiten verloren habe und um die österreichischen Ausdrücke gekämpft hätte.

Die Protagonistin scheint die Jurymitglieder verführt zu haben. Es handle sich in diesem Roman um eine unzuverlässige Erzählstimme, was für einen solchen Roman keine Ausnahme sei, allerdings sei die Erzählerin sehr witzig, denn die vielen hinterlistigen Beobachtungen machen den Roman zu einem Lesevergnügen (Strigl). Das Buch sei dynamisch, frech und unterhaltsam. Der Leser werde hier auf eine raffinierte Weise verschaukelt (Papst). Kunisch hat es gut gefallen, dass man plötzlich an die Krankheit der Figuren nicht mehr glaube. Die Situationskomik verführte auch Gerhard Ruiss. Er sieht in dem Roman zugleich auch eine Verlassenheitsgeschichte mit einem Bedürfnis nach Klärung. Strigl beobachtet, dass in diesem Roman das Vokabular der Wertschätzung rhetorisch ad absurdum geführt und lächerlich gemacht wird. Diese Figur sei eine wandernde Zumutung und der Vater der Protagonistin sei selber ein Patient gewesen und zudem schwach. Dagegen handle sich bei Eva um eine sehr untypische und starke Figur, so Wild. Ob der Vater eine neue Familie habe, würde sie misstrauen. Denn gibt es den Vater überhaupt noch? Sei überhaupt das passiert, was uns die Protagonistin erzählt?

Die Lesung und die Jury-Diskussion zu Angela Lehner zum Nachhören:

 

digDie Vormittagslesungen schließt Emanuel Maeß mit „Gelenke des Lichts“ (Wallstein Verlag) ab. Mit einer melodischen und ruhigen Stimme liest er einige Auszüge aus seinem Buch. Der Lesung stellt er einen kurzen Vortrag zur Geschichte des deutschen Bildungsromans voran.

Die Jurymitglieder sind sich einig: Bei „Gelenke des Lichts“ handelt es sich um einen Roman aus einer entfernten Zeit. Der Autor zeige sich als kein Anhänger der Hauptsatzästhetik (Strigl). Die Schwierigkeit des Romans liege in einer enormen Dichte des Textes, denn in den Nebensätzen Vieles versteckt sei, was zur Folge hat, dass man diesen Roman nicht schnell lesen kann (Papst). Die Handlung des Romans spiele mit einer gewissen Arroganz gegen sich selbst, denn manche Textabschnitte halten ihre Dichte nicht durch (Kunisch). Das besondere Merkmal des Textes sind seine Landschaftsbeschreibungen (Ruiss). Der Roman habe eine neue Stimme, einen neuen Ton, dennoch befremdete der Roman Gabriele Wild, u.a. weil der Protagonist ständig dabei sei, sich aus der Welt zurückzuziehen. Zudem kann sie das „Du“ nur schwierig als eine Projektion lesen. Auch die Frauen kämen in dem Roman zu kurz (Wild). Manfred Papst hat der Roman u.a. durch seinen Humor überzeugt.

Die Lesung und die Jury-Diskussion zu Emanuel Maess zum Nachhören:

 

digDie erste Lesung nach der Mittagspause hält Lola Randl mit „Der grosse Garten“ (Matthes & Seitz Berlin). Sie liest mit einer starken Stimme vor. Kommentiert die jeweiligen Kapitel aus ihrem Roman. Bei der Lesung wird der ironische Ton des Textes deutlich hörbar. Sie scheint das Publikum für sich gewonnen zu haben, was sich später in den Publikumspreis übersetzt.

Hans-Peter Kunisch verritt, dass er bereits 2016 das Vergnügen hatte, das Dorf zu besuchen, das in Randls Roman beschrieben wird, und dass es dort tatsächlich z.B. Japanerinnen gab. Er zeigt sich vor allem von seinem Inhalt fasziniert. Weder Stadtflucht noch die Suche nach dem verlorenen Paradies seien neue Themen der Literatur (Strigl). Dass es sich hierbei um einen Roman handle, bestätige die Nominierung zum Deutschen Buchpreis 2019, wo nur Romane nominiert würden, sei als eine ausreichende Bestätigung (Strigl). Für Daniela Strigl hat der Roman ab der Mitte, als sie alle Figuren und die Funktionsweise des Romans vollständig erkannt hatte, keinen Reiz mehr ausgeübt. Interessant sei aber das Baukastensystem des Romans (Papst), das es erlaube, diesen Text als ein Beispiel für ein offenes Kunstwerk zu lesen und die Kapitel frei zu kombinieren, wobei der Roman der aufklärerischen Methode der Anordnung folge. In diesem Roman gehe es für Ruiss zudem um die Frage danach, was Leben sei. Gabriele Wild stimmt den Vorrednern in Vielem (Baukastensystem, Stadtflucht, alternative Lebensentwürfe) zu, doch sie sieht in dem Roman kein Gleichgewicht zwischen dem Menschen, Tier und Pflanze bewahrt. Sie wirft dem Roman einen übertriebenen Einsatz des rhetorischen Stillmittels der Personifizierung vor, z.B. seien die Pflanzen zu sehr vermenschlicht. Außerdem kreise die Erzählerin zu sehr um ihre eigene Persönlichkeit. Seiten der Jury werden Vergleiche zu den früheren Aussteigerromanen gezogen, die sich weniger als jetzt auf individuelle Schicksale bezogen haben (Strigl). Die Ästhetik der Freiheit zeige sich manchmal auch daran, dass manches direkt ausgesprochen und anderes unausgesprochen bleibe (Kunisch). Die Autorin vergleich ihren Roman selbst mit einem Komposthaufen. Nach der Deutung des Coverbildes gefragt, erklärt sie, dass dieses Bild das ausdrücke, was sie mit den Worten nicht verbalisieren konnte. Sie lobt den positiven therapeutischen Einfluss der Jurydiskussion auf sie selbst. Das Publikum zeigt sich von den ausgewählten Textstellen, die sehr ironisch-humoristisch aufgebaut sind, sowie von der offenen und sympathischen Art der Autorin begeistert zu sein.

Die Lesung und die Jury-Diskussion zu Lola Randl zum Nachhören:

 

digDie letzte Lesung der diesjährigen Ausgabe des Franz-Tumler-Literaturpreises hält Niko Stoifberg mit „Dort“ (Nagel & Kimche Verlag). Der Autor liest den Beginn des Romans bis zur Feststellung Milos Todes vor.

Kunisch dachte zunächst, es handele sich bei diesem Roman um Kitsch, da die Zusammenstellung der Figuren und ihre Beziehungen untereinander äußerst skurril seien. Dies denke er nicht mehr. Dennoch findet er das Ende des Romans nicht besonders gelungen. Für Daniela Strigl liegt die Kraft des Buches in der Vergegenwärtigung der Handlung und der Nähe zum Protagonisten. Dennoch seien manche Zufälle dieses Romans für sie nicht überzeugend genug, denn von einer realistischen Geschichte erwartet man den Realismus bereits in der Anlage des Buches. Gabriele Wild findet interessant, dass man so tief in diese Geschichte einsteigen könne. Denn der Leser werde hier zum Komplizen des Erzählers, indem ihm bereits zu Beginn des Romans ein Geheimnis bezüglich der Todesumständen des Kindes anvertraut wird. Gerhard Ruiss findet interessant zu beobachten, wie eine einzige falsche Entscheidung bei den in ihrem Romanwelt bisher erfolgreichen Figuren zu einer vollkommenen Katastrophe führen könne. Bei diesem Buch handle es sich nicht um einen Kriminalroman, sondern um einen Psychothriller, denn es ist ein Szenario ohne einen Ausweg. Diese tragödienhafte Ausweglosigkeit habe ihn beeindruckt. Manfred Papst sieht in diesem Roman einen Einbruch des Ungeheuren ins Gewöhnliche nacherzählt. Das Unwahrscheinliche des Romans spiele auf die griechische Tragödie an, hier könne man die Ödipus-Saga heranziehen, die einem gleichermaßen unglaubwürdig vorkommen mag. Kunisch möchte in dem Roman dagegen eher David Lynch wiedererkannt haben. Es gehe hier um eine Geschichte außerhalb der Gesellschaft, in der es um die existenziellen Bande zwischen den Figuren gehe. Daniela Strigl schließt eine Verbindung von Lynch und der griechischen Tragödie nicht aus. Kunisch bemerkt, dass der Roman mit dem Authentischen spiele, während er selbst gar nicht authentisch sei. Das Buch sei gewollt so geschrieben, was ihm am Anfang nicht bewusst war.

Die Lesung und die Jury-Diskussion zu Niko Stoifberg zum Nachhören:

Die beiden Gewinnerinnen wurden bei einer feierlichen Preisverleihung gekürt, die mit einer musikalischen Untermalung der lokalen Blasorchester in der Markus-Kirche in Laas ausgetragen wurde.

 

 

Ich bedanke mich bei den Organisatorinnen und Organisatoren des Literaturpreises und bei allen Beteiligten aus Laas für diese schönen Tage! Es war mir ein Literaturvergnügen!

Sehr herzlich bedanke ich mich auch bei Herrn Christoph Pichler (Rai Südtirol) für die Bereitstellung der Audiodateien der Lesungen und der Jury-Diskussion.

Weitere Informationen zum Franz-Tumler-Literaturpreis findet ihr hier.

Angela Lehner landete auf der Shortlist von „Das Debüt 2019“ – Bloggerpreises für Literatur. (Hier)

Hier geht es zum Bericht über den Tumler-Literaturpreis auf Lesefieber.ch

Hier geht es zu den Besprechungen der Romane auf unserer Seite:

Lola Randl „Der grosse Garten“ 

Angela Lehner „Vater unser“ 

Niko Stoifberg „Dort“ 

Marko Dinić „Die guten Tage“

Emanuel Maess „Gelenke des Lichts“ 

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