Olivia Wenzel legt mit ihrem Debütroman „1000 Serpentinen Angst“ ein Buch der Stunde – denn aktueller könnte ihr Roman, in dem es u.a. um Rassismus und Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe geht, wohl nicht sein.

Mein Herz ist ein Automat aus Blech. Dieser Automat steht an irgendeinem Bahnstein, in irgendeiner Stadt. Ein vereinzelter, industrieller Klotz, trotzdem unscheinbar. Eine Maschine, ein rostfreier, glänzender, quadratischer Koloss. Warum steht er allein, wer hat ihn erfunden?
Eine Handlung im klassischen Sinne gibt es in diesem Roman nicht, dafür eine Textcollage aus Erinnerungen, (Zwie-)Gesprächen, Ausschnitten aus medial verbreiteten Liedern und aus beschriebenen Familienfotos. Mit anderen Worten: Es ist eine intermediale Ansammlung von Momentaufnahmen, wobei die Protagonistin Zeit und Ort überwunden zu haben scheint. Alles ist jetzt und hier. Sie ist überall und nirgends zugleich. So spielt der Text auf verschiedenen Ebenen, was ihm eine gewisse Dynamik verleiht.
Bei diesem Roman handelt es sich um eine Autofiktion, denn das Buch suggeriert, stark vom Leben der Autorin inspiriert worden zu sein. Zudem nutzt die Erzählerin zahlreiche Mittel zur Erzeugung von Authentizität, z.B. wenn sie dem Roman durch den Einsatz von Familienfotos einen dokumentarischen Charakter zu verleihen versucht.
Würde man hier nach den möglichen Identifikationspotentialen der LeserInnen mit der Protagonistin fragen, käme man wohl nicht um die Frage nach der eigenen Hautfarbe herum. Denn in diesem Roman ist sie das einzige Unterscheidungsmerkmal der Protagonistin von anderen Charakteren des Romans, zeitgleich aber auch das Hauptmerkmal, das ihre Erlebnisse zu bestimmen scheint.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Roman – trotz mancher bereits bekannten – um nicht zu sagen – stereotypen Darstellungen – einen sichtbaren Beitrag zu der aktuellen Debatte leistet, indem er die LeserInnen u.a. auf die eigene Ausdrucksweise im Umgang mit Menschen unterschiedlichster Hautfarbe sensibilisiert.
Klappentext:
»Ich habe mehr Privilegien, als je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Großmutter es sich vorstellen kann. Am Tag der Bundestagswahl versuche ich ihr mit dieser Behauptung 20 Minuten lang auszureden, eine rechte Partei zu wählen.«
Eine junge Frau besucht ein Theaterstück über die Wende und ist die einzige schwarze Zuschauerin im Publikum. Mit ihrem Freund sitzt sie an einem Badesee in Brandenburg und sieht vier Neonazis kommen. In New York erlebt sie den Wahlsieg Trumps in einem fremden Hotelzimmer. Wütend und leidenschaftlich schaut sie auf unsere sich rasant verändernde Zeit und erzählt dabei auch die Geschichte ihrer Familie: von ihrer Mutter, die Punkerin in der DDR war und nie die Freiheit hatte, von der sie geträumt hat. Von ihrer Großmutter, deren linientreues Leben ihr Wohlstand und Sicherheit brachte. Und von ihrem Zwillingsbruder, der mit siebzehn ums Leben kam. Herzergreifend, vielstimmig und mit Humor schreibt Olivia Wenzel über Herkunft und Verlust, über Lebensfreude und Einsamkeit und über die Rollen, die von der Gesellschaft einem zugewiesen werden.
Olivia Wenzel, 1985 in Weimar geboren, Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Uni Hildesheim, lebt in Berlin. Sie schreibt Theatertexte und Prosa, machte zuletzt Musik als Otis Foulie. Wenzels Stücke wurden u.a. an den Münchner Kammerspielen, am Hamburger Thalia Theater, am Deutschen Theater Berlin und am Ballhaus Naunynstrasse aufgeführt. Neben dem Schreiben arbeitet sie in Workshops mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In der freien Theaterszene kollaboriert sie als Performerin mit Kollektiven wie vorschlag:hammer. »1000 Serpentinen Angst« ist ihr erster Roman.
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