Ein abgeschiedenes Dorf in Krisenzeiten, keine Arbeit, keine Perspektiven für die Zukunft… Die einzige Lösung scheint, in die Stadt abzuwandern. Doch der Preis für ein wenig Geld ist höher, als man es annimmt. Denn wer zeigt den zurückgelassenen Kindern den richtigen Weg (vorausgesetzt, es gibt den…), wer lehrt sie die Welt?

Wir umarmen uns zum Abschied, stecken nach der Umarmung unsere Hände in die Hosentaschen, als würden wir die Berührung von Mutters Rücken und Vaters Schultern in den Händen behalten können. Wir spüren noch den Druck ihrer Körper auf unserer Brust. Jetzt steigen sie ins Auto, jetzt startet der Motor, jetzt fahren sie los. Mutter winkt aus dem offenen Fenster. Der Schotter spritzt, weil es Vater immer so eilig hat. Wir winken ihnen nach. Jetzt verschwinden die Eltern um die nächste Kurve. Wir stehen trotzdem da und winken noch immer. Jetzt hören wir das Auto schon nicht mehr. Großmutter hat sich umgedreht, geht zurück zum Haus.
Klappentext:
„Ein abgeschiedenes Dorf. Leere Bauernhöfe. Eine aufgelassene Schule. Die Erwachsenen haben nach und nach das Dorf verlassen. Zurückgeblieben sind die Kinder. Sie empfangen Pakete und Geld. Sie kochen, putzen und pflegen die Großeltern und kleinen Geschwister. Scheinbar soll Krieg herrschen rundherum. Als auch der einzige Lehrer das Dorf verlässt, beginnen die Kinder, ihre eigenen Gesetze und Regeln aufzustellen. Was harmlos beginnt, wird rasch zu einem System aus Gewalt und Macht, dem sich alle zu unterwerfen haben. Nur Mila will sich nicht beugen und wird zur Außenseiterin, die bis zum Ende für das Gute kämpft.
Lucia Leidenfrost entwirft in ihrem ersten Roman eine unheimliche und vielstimmige Parabel. Das Dorf könnte überall stehen, zu jeder Zeit. Gerade das verleiht dem Roman eine durchdringende Aktualität. Doch so düster die Aussichten auch sein mögen, die Hoffnung leuchtet kraftvoll wie ein Stern in der Dunkelheit.“ Quelle: Kremayr&Scheriau
Leidenfrosts mehrstimmiger Roman fragt danach, was passiert, wenn die Kinder sich selbst überlassen werden. Finden sie den richtigen Umgang mit der Welt, mit dem Alltag und seinen Problemen? Die Diagnose fällt ernüchternd aus. Denn alleine Mila, die bereits als Kind die Mutterrolle übernehmen muss, scheint die kindliche Naivität verloren zu haben. Als einzige versteht sie den Ernst und die absehbaren negativen Folgen der aktuellen Situation. Aber kann eine einzige Person alleine die Welt ändern? Und wie wird sie sich als Einzelgängerin entwickeln, während die übrigen Kinder planlos (auch wenn sie immer wieder versuchen, Regeln und Gesetze in ihren Alltag einzubauen!), ohne die nötige Weitsicht und äußerst naiv durch das Leben schreiten? Der Roman zeichnet sich nicht nur durch eine schöne Sprache, eine gute Textkomposition und gelungene Metaphorik aus, sondern er lässt die LeserInnen noch lange nach der abgeschlossenen Lektüre an dieses Dorf und seine Kinder zurückdenken. Denn dieser Roman lässt sich (leider!) als eine Parabel auf unsere heutige Welt lesen…
LUCIA LEIDENFROST wurde 1990 in Frankenmarkt (Oberösterreich) geboren. Sie studierte Germanistik, Skandinavistik und Germanistische Linguistik an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Seit 2014 lebt sie in Mannheim und ist Co-Gründerin des Kollektivs für Junge Literatur Mannheim. Ihre Erzählungen sind in österreichischen und deutschen Literaturzeit-schriften erschienen. Sie erhielt u.a. das Start-Stipendium des Bundeskanzleramts Österreich und das Arbeitsstipendium des Förderkreises für SchriftstellerInnen in Baden-Württemberg. Ihr Prosadebüt „Mir ist die Zunge so schwer“ (Erzählungen) ist im Frühjahr 2017 erschienen. „Wir verlassenen Kinder“ ist ihr erster Roman.