Wie jedes Jahr möchten wir uns vor der Verkündung der Shortlist von ganzem Herzen bei allen teilnehmenden Autorinnen und Autoren sowie ihren Verlagen für das entgegengebrachte Vertrauen und die Aufgeschlossenheit gegenüber unserem Literaturpreis bedanken. Es war uns eine große Freude die eingereichten Titel zu lesen!
Nun soll das Warten aber ein Ende haben…
Aus 61 eingereichten Titeln (insgesamt 16.977 Seiten aus 40 verschiedenen Verlagen) haben wir eine Shortlist erstellt, die fünf Debütromane umfasst. Die Titel sind nach Einreichungsdatum aufgeführt:
Lucia Leidenfrost – Wir verlassenen Kinder
erschienen bei Kremayr&Scheriau
Begründung
In „Wir verlassenen Kinder“ von Lucia Leidenfrost betreten wir die Welt eines abgeschiedenen Dorfes, in der die Elterngeneration auf der Suche nach Arbeit und Geld in die Stadt ausgewandert ist. Im Zentrum des Romans steht Mila, eine kritisch und selbstständig denkende Einzelgängerin, die sich seit dem Tod ihrer Mutter um die jüngeren Geschwister kümmern muss. Unterdessen stellen die anderen Kinder des Dorfes, die im Roman stets als Kollektiv in einem Chor sprechen, ihre eigenen Regeln auf, wobei die Verweigerer willkürlich bestraft werden. Es wird ein System etabliert, das auf Dauer nicht funktionieren kann, weil die Kinder zu jung sind, um sich der Tragweite ihrer Taten bewusst zu sein. Dennoch bleibt ihr Überlebenswillen und die Hoffnung auf ein besseres Leben.
Leidenfrost beschreibt eine Welt, die uns unsere eigenen Privilegien deutlich vor Augen führt. Sie thematisiert Dorfflucht und das schwindende Wissen um Selbstversorgung und scheut sich nicht, die großen Fragen nach Verantwortung, Schuld oder Moral zu stellen. Getragen wird der Roman durch die Sprachkunst der Autorin, ihre poetische und melodische Sprache, die nicht zuletzt dazu beiträgt, dass die Geschichte der verlassenen Kinder noch lange nachklingt.
David Misch – Schatten über den Brettern
erschienen bei duotincta
Begründung
Die Leserinnen und Leser von David Mischs Roman „Schatten über den Brettern“ begegnen einem Protagonisten, der seiner nun verstorbenen Tochter rückblickend die Geschichte seines Doppellebens erzählt: Tagsüber ein Folienfabrikmitarbeiter, nachts ein Schauspieler im systemkritischen Zeitungstheater. Dort verkörpert er, bis zum Identitätsverlust, drei politisch heikle Charaktere (Paul, Darco und Tareusz) sowie die Figur des Populisten. Der Protagonist geht damit ein hohes Risiko ein, denn in der posteuropäischen Ära der Neuen Union sind Freigeister und Systemfeinde nicht erwünscht.
David Misch legt mit seiner bitter-bösen Gesellschaftskritik und Dystopie ein mutiges Romandebüt vor, in dem er sich mit den aktuellen Entwicklungen in der (Kultur-)Politik auseinandersetzt. Die Sprache des Romans ist anspruchsvoll, bestehend hauptsächlich aus parataktischem Satzbau, mit Bezügen zur Klassik der Literatur. Nicht nur durch die Sprache mutet der Autor einiges zu, auch eine kalkulierte Verwirrung der LeserInnenschaft (insbesondere am Anfang des Romans) und das gesamte Erzählverfahren machen deutlich, dass sich dieser Roman jenseits des belletristischen Mainstreams bewegt. Er ist im besten Sinne ein Akt des formalen Wagemuts. Trotz einiger Schwächen auf der sprachlichen Ebene sowie in der Textgestaltung besticht der Roman durch präzise Gegenwartsbeobachtungen und stößt eine Debatte über die Freiheit der Kunst und deren politische Funktionalisierung an.
Cihan Acar – Hawaii
erschienen im Verlag Hanser Berlin
Begründung
Drei heiße Sommertage und -nächte lang begleiten die Leserinnen und Leser Kemal, den Protagonisten aus Cihan Acars Debütroman „Hawaii“, der nach einem selbstverschuldeten Autounfall in seine Heimatstadt Heilbronn zurückkehrt, um genau da anzuknüpfen, wo er vor seiner Karriere in der türkischen Fußball-Liga aufgehört hat. Doch nicht nur seine Ex-Freundin Sina hat mittlerweile einen neuen Partner; die gesamte Atmosphäre in der Stadt hat sich verändert. Die rechte Bewegung „Heilbronn, wach auf“ zieht durch die Straßen, während die Rockergang „Kankas“ ihre Gegenwehr plant. In dieser Absteiger- und Neustartgeschichte wird ein Schlaglicht auf das Leben im
Spannungsverhältnis zwischen (post)migrantischem Milieu und deutscher Mehrheitsgesellschaft geworfen. Dieser Roman, in dem es um Fremdzuschreibungen, zwischenmenschliche Beziehungen und das Scheitern geht, besticht durch seine schnellen Szenenwechsel und rasanten Dialoge. Zudem erweist sich der Autor als Meister des Figurenensembles, dem es mit scheinbarer Leichtigkeit gelingt, jeder einzelnen Figur ihre sprachliche Einzigartigkeit zu verleihen, durch die sie lebendig wird. Cihan Acar ist eine erfrischend neue Stimme in der deutschen Gegenwartsliteratur.
Amanda Lasker-Berlin – Elijas Lied
erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt
Begründung
In ihrem Debütroman „Elijas Lied“ erzählt Amanda Lasker-Berlin von drei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Die titelgebende erstgeborene Elija kam mit Trisomie zur Welt und ist auf die Unterstützung Dritter angewiesen. Loth ist seit ihrer Zeit in Leipzig das Aushängeschild einer rechtsextremen Gruppierung. Noa arbeitet neben dem Studium in einer Kantine und leistet Sexualdienste an Bettlägerigen. Bei einer gemeinsamen Tageswanderung wollen die Schwestern wieder zueinander finden. Doch ihre konfliktbeladene Vergangenheit lässt sie keine gemeinsame Sprache finden, sodass jede für sich ihren Gedanken und Erinnerungen nachhängt. Mit großer Empathie und genauem Blick durchdringt die Autorin ihre Figuren. Sie spürt Brüche und Widersprüche auf und transformiert körperliche Erfahrungen in eine verdichtete Sprache. Mit feinem Gespür kontrastiert, kommentiert und verstärkt sie die erzählte Geschichte durch eindrückliche
Naturbeschreibungen. Zudem zeichnet sich der Roman durch eine hohe Wirklichkeitsreferenz aus, indem er aktuelle gesellschaftlich-politische Entwicklungen mit einer zugespitzten familiären Konstellation verwebt, ohne dabei jedoch den moralischen Zeigefinger zu erheben. Der Roman fragt nach dem Grund der fortschreitenden Radikalisierung des Einzelnen sowie nach dem vorherrschenden Wertesystem und führt auf subtile Weise vor, wie gesellschaftliche Diskurse Familienzusammenhänge beeinflussen und zerstören können.
Deniz Ohde – Streulicht
erschienen im Suhrkamp Verlag
Begründung
Deniz Ohde entwickelt in „Streulicht“ eine namenlose Ich-Erzählerin, die anlässlich der Hochzeit ihrer Kindheitsfreunde in die Heimatstadt zurückkehrt. Der Roman ist eine Reflexion über das Aufwachsen am Rande einer sich selbst als Elite bezeichnenden bürgerlichen Mittelschicht. Die Protagonistin blickt auf diese Welt, wie sie selbst sagt, von den Seitenrändern: Ihre früh verstorbene Mutter schämte sich für ihre türkische Abstammung, ihr trinkender Vater arbeitet im angrenzenden Industriepark. Als Gegenbild der namenlosen Ich-Erzählerin fungieren ihre gutbürgerlichen Kindheitsfreunde Sophie und Pikka. Sie richten sich in ihrer kleinen Welt ein und werden im Laufe der Jahre zu einer lebendigen Kopie ihrer Eltern. Die Ich-Erzählerin hingegen versucht, die Spuren ihrer Eltern zu verlassen, obwohl ihr das niemand zutraut. Insbesondere die Figuren der Eltern beschreibt Ohde
mit einem Feingefühl, einer Zärtlichkeit und einer sprachlichen Dezenz, die nicht urteilt oder beschuldigt. Gleichzeitig werden die Eltern zu keinem Zeitpunkt aus ihrer Verantwortung entlassen. Es ist die Geschichte eines Aufstiegs, der bitter schmeckt. Denn „Streulicht“ ist gleichermaßen eine Reflexion über das Bildungssystem, das eher auf Aussieben und Schubladendenken beruht, als darauf, Kinder individuell zu fördern, ihnen die gleichen Chancen und Möglichkeiten zu bieten. Durch das konsequente Beschreiben kleiner Details gelingt es Ohde auf herausragende Weise, die Komplexität und Schwächen unseres gesellschaftlichen Systems sichtbar zu machen.
Aus diesen fünf Debütromanen wählen die teilnehmenden Literaturbloggerinnen und Literaturblogger ihren persönlichen Favoriten. Der Roman mit den meisten Stimmen wird als der beste Debütroman 2020 im Rahmen des Bloggerpreises für Literatur gekürt. Der Gewinner wird Anfang des kommenden Jahres auf dem Blog bekanntgegeben.
Uns interessiert natürlich auch eure Meinung dort draußen. Was haltet ihr von der Liste, welchen Roman hättet ihr die Shortlistnominierung gewünscht, habt ihr bereits Titel der Liste gelesen und wie haben sie euch gefallen? Wir freuen uns auf eure Kommentare.
Zusätzlich wird es in der Seitenleiste wieder eine Umfrage geben, bei der ihr eure Stimme eurem Favoriten geben könnt. Wir sind gespannt, wen ihr gewählt hättet.
Bislang konnte ich von der Liste nur „Streulicht“ lesen, aber das fand ich außergewöhnlich gut!
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