[Das Debüt 2021] Buchvorstellung: Esther Becker „Wie die Gorillas“

Esther Becker liefert einen Roman, der nicht von der erzählten Geschichte lebt, sondern sich vielmehr subtil in den Zwischenzeilen abspielt. Die schlaglichtartig erzählten Episoden aus dem Leben einer adoleszenten Ich-Erzählerin zeigen, dass eine Frau erst von der weiblichen Merkmale befreit, in einem Hosenanzug ohne den Kontrollblick der Gesellschaft und „wie die Gorillas“ stolzieren kann.

„Zu viert müssen sie mich festhalten. Vielleicht auch zu fünft.

Ob ein Paar der vielen Hände zu meinem Vater gehört, ist nicht sicher, meine Augen sind fest verschlossen. Vielleicht sitzt er auch auf einem der stapelbaren Wartezimmerstühle und schaut zu.

Die übrigen Hände gehören meiner Ärztin und dem weiteren Praxispersonal, das einer nach dem anderen von ihrem Posten herbeigerufen wurde. Meinetwegen.“

Klappentext:

Abnehmen, ohne anderen davon zu erzählen, den Rasierer auf dem Weg in die Schwimmbaddusche verstecken, schminken, als wäre alles von Natur aus so.

In ihrem Debütroman »Wie die Gorillas« beschreibt Esther Becker das Erwachsenwerden junger Frauen in einer Gesellschaft, die behauptet, alle könnten selbst bestimmen. Doch gehört sich Manches und Anderes nicht. Wo verlaufen die Grenzen zwischen ausgelebter Individualität und den Anstrengungen dazuzugehören? Wie soll der Körper aussehen, wie sich benehmen – ob beim Sportunterricht, in der Schule, unter Freundinnen oder in Beziehungen?

Lustvoll, pointiert, mit viel Humor und mit der Drastik, die es benötigt, erzählt Becker vom gesellschaftlichen Druck, der auf jungen Frauenkörpern lastet. Quelle: Verbrecher Verlag

Esther Becker legte mit ihrem Debüt einen interessanten Roman vor. Zwar bildet der Text keine aktuelle Situation ab, denn die Handlung wurde in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts versetzt, dennoch zeigt er, wie wichtig für heranwachsende Frauen und heutzutage wohl gleichermaßen auch für heranwachsende Männer das eigene Erscheinungsbild in der Gesellschaft ist. Eine der gesellschaftlichen Dynamiken, die sich in den letzten Jahren wohl um Vielfaches verstärkte. Der Text setzt sich aus Textabschnitten zusammen, die – wie kurze Schlaglichter – achronologisch und mit einer gewissen sprachlichen Nüchternheit und Distanz mehrere Momentaufnahmen aus der Zeit der Pubertät und der Adoleszenz der Ich-Protagonistin wiedergeben. Dabei konzentriert sich der Roman nicht alleine auf den durch ein Korsett aus gesellschaftlichen Zwängen gekränkten Körper, sondern er stellt auch weitere Fragen auf, wie z.B. nach der Rolle der Eltern bei der Erziehung der Kinder. Diese Lesart wird insbesondere durch den Aufsatz-Monolog (3. Kapitel) und die Frage inspiriert: „Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden?“ Doch der Roman löst nicht alles ein, was er zu versprechen scheint. Zudem bedarf er, insbesondere durch seine ästhetische Reduktion in der Beschreibung mancher Phänomene, einer hohen Identifikation seiner LeserInnen mit der dargestellten Thematik. Des Weiteren werden viele Sendungen und Aussagen des Romans nicht direkt verbalisiert, was nicht zuletzt das Ad-hoc-Verständnis des Textes womöglich ein wenig erschweren kann. Denn Vieles wird in den Zwischenzeilen erzählt, wie die Titel gebende Szene, als sich die drei Protagonistinnen ihre Busen anbinden und in einem Männeroutfit „wie die Gorillas“ um die Blocks stolzieren. Damit befreien sie sich für einen Moment von ihrer Weiblichkeit und genießen die neu gewonnene Freiheit – Für diesen Augenblick müssen sie nicht dem Bild eines perfekten Frauenkörpers entsprechen. „Wie die Gorillas“ ist keine schnelle Lektüre, denn der Roman verlangt einer Nachbearbeitung bzw. einer anschließenden Auseinandersetzung mit den gelesenen Inhalten. Dennoch – oder vielleicht deswegen – lohnt die Lektüre.

Bozena Badura im Gespräch mit Esther Becker. HIER

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Hier geht es zur Internetseite des Verlags.


ESTHER BECKER

ESTHER BECKER, geboren 1980 in Erlangen, lebt als Dramatikerin, Schriftstellerin und Performerin in Berlin. Sie studierte an der Hochschule der Künste Bern und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie veröffentlichte Texte in diversen Magazinen und Anthologien. Ihre Theatertexte (Verlag Felix Bloch Erben) wurden bereits mehrfach ausgezeichnet und in Deutschland und der Schweiz aufgeführt. Sie ist Mitglied der Theaterformation bigNOTWENDIGKEIT.


Ein Gedanke zu “[Das Debüt 2021] Buchvorstellung: Esther Becker „Wie die Gorillas“

  1. Ja, dieses Buch ist auf jeden Fall “schlaglichtartig” – es unterscheidet sich von gegenwärtigen und historischen Bildungsromanen sowohl in seinem Inhalt als auch in seiner Form, vielleicht sogar mehr im letzteren Fall. Das ist also kein normaler Bildungsroman aus der Sicht eines klassischen deutschen Literaturkanons. Die Wechselwirkung zwischen Innerem und Äußerem steht im Vordergrund, und, wie Sie schreiben: “das eigene Erscheinungsbild [ist] für heranwachsende Frauen und [wohl] gleichermaßen für heranwachsende Männer wichtig”. Sie haben Recht – das Buch stellt seine eigenen Fragen auf, statt sie bloß zu beantworten. Die wichtigste lautet: “Was machst du, wenn deine Kinder Frauen werden?” Es lohnt sich, so ein episodenhaftes Buch mehrmals zu lesen bzw. zu durchblättern.

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