Michael Kumpfmüller - Hampels FluchtenDas Debüt ist ein Übergangsritual, so etwas wie die Taufe oder früher die Jugendweihe. Was danach ist, ist vorher nicht gewesen, und was vorher war, kommt danach nicht wieder.
Man ist als Schriftsteller buchstäblich ein anderer Mensch, wenn das erste Buch erschienen ist, man tritt aus den Schubladen heraus in die Welt, ganz gleich, ob die Welt das begrüßt.
Mein Debüt Hampels Fluchten erschien im Sommer 2000. Ich bin mit neununddreißig ein sehr später Debütant gewesen. Ich habe seit meinem sechzehnten Lebensjahr geschrieben, aber erst in meinen Dreißigern machte ich Ernst damit. Man könnte sagen, dass ich bis dahin zuviel Zeit hatte. Mit der Geburt meines ersten Sohnes und drei Jahr später meines zweiten, entstand die paradoxe Situation, dass mir die Zeit an allen Ecken und Enden fehlte, ich aber eben dadurch begriff, wie kostbar sie war.
Ich habe sechs Jahre an Hampels Fluchten gearbeitet. Da es sich um einen Familienstoff handelte, habe ich 1994 in einem ersten Schritt große Teile meiner Familie interviewt. Ich erstellte eine zweihundertseitige Dokumentation mit Abschriften von Briefen, den Interviews, ersten Überlegungen zur Form. Dann legte ich alles wieder zur Seite.
1996 rief mich eines Sonntags mein späterer Agent, Matthias Landwehr, an. Er hatte eine Reportage von mir gelesen und wollte mich kennenlernen. Ich wusste kaum, was ein Agent ist, ließ mich aber gerne ein bisschen aushorchen. Er war auf liebenswürdigste Weise vorsichtig, und am Ende lief es darauf hinaus, dass er mich aufforderte, zu schreiben.
Auf diesen Moment, ich kann es nicht anders sagen, hatte ich seit Jahren gewartet. Ich fühlte mich wie ein junges Mädchen, das auf den Boulevards von Hollywood in der unsinnigen Hoffnung spazieren gegangen ist, es könnte ihr eines Tages ein Filmprozent auf die Schulter klopfen und sagen: Mit Ihnen mache ich meinen nächsten Film.
Und so etwas Ähnliches war mir ja soeben passiert.
Jetzt, dachte ich, beginnt das Leben, von dem du immer geträumt hast. Ich war allerbester Dinge. Ich hatte das Projekt, das dem Agenten zum Glück gefiel, ich hatte, wie gesagt, wenig Zeit, war jedoch entschlossen, sie umso entschiedener zu nutzen.
Für das erste Kapitel brauchte ich ein halbes Jahr. Aber ich blieb dran, das Schreibtempo erhöhte sich, der Text wuchs. Ich bewarb mich für ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds in Darmstadt und bekam es zu meiner Überraschung.

© Eva Menasse
© Eva Menasse

Spätestens jetzt war ich der glücklichste Mensch der Welt. Jemand gab mir Geld, damit ich schrieb. Hieß das nicht, dass mein Schreiben ein für alle Mal gerechtfertigt war?
Und ich hatte weiter Glück. Ich bewarb mich für den von Günter Grass gestifteten Alfred-Döblin-Preis und wurde im Frühjahr 1999 eingeladen, an den so genannten Werkstatt-Lesungen teilzunehmen. Den Preis (damals stand das vorab fest) hatte Norbert Grein gewonnen. Aber ich hatte meinen ersten öffentlichen Auftritt und danach innerhalb weniger Wochen einen Verlag.
Das Buch war gerade mal zur Hälfte fertig, ich musste mich beeilen, es zu Ende zu schreiben, und tatsächlich habe ich in meinem Leben nie so schnell und entschieden gearbeitet wie in den letzten Monaten des Jahres 1999 und den ersten des Monats 2000.
Ich weiß nicht, ob das Davor besser war oder das Danach.
Als das Buch endlich in den Buchhandlungen lag, war das Meiste schon passiert. Es gab einen Vorabdruck in der FAZ, es gab Besprechungen in den großen Zeitungen, es gab das Literarische Quartett. Alles innerhalb weniger Tage. Marcel Reich-Ranicki mochte das Buch nicht, weil ein Bettenverkäufer darin vorkommt (er lese lieber Romane über Dirigenten), während Iris Radisch der Meinung war, ein Wessi dürfe über nicht Ossis schreiben, es gebe doch genügend wunderbare Schriftsteller im Osten.
So lernte ich den Literaturbetrieb kennen. Ich machte meine erste Lesereise, es gab die ersten Übersetzungen. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus und ließ mir von wohlmeinenden und weniger wohlmeinenden Stimmen sagen, das schwerste Buch sei natürlich das zweite.
Daran ist richtig, dass ein geschriebenes Buch dem Autor kein großes Kopfzerbrechen bereitet, während das zweite, dritte, vierte erst geschrieben werden müssen.
Im Grunde sind alle Bücher gleich schwer. Das ist ein Fluch, aber eigentlich ein Glück, denn sonst gäbe es ja keinen Grund, an den Schreibtisch zurückzukehren und sich dort zwei, drei Jahre einer Mühe zu unterziehen, die mit Abstand die beste ist, die ich kenne.

© Michael Kumpfmüller

Hampels Fluchten // 2000

Verlag: Kiepenheuer & Witsch


Michael Kumpfmüller wurde am 21. Juli 1961 in München geboren. Nach seinem Studium der Geschichte und der Germanistik, arbeitete er als freier Journalist für diverse Tages- und Wochenzeitungen, seit 1999 als freier Schriftsteller. 2000 veröffentlichte er sein viel diskutiertes Debüt Hampels Fluchten. Es folgten drei weitere Romane, von denen einer („Nachricht an alle“) mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien sein Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“, in dem Kumpfmüller sich Kafkas Liebesleben widmet. Derzeit lebt er mit seiner Frau Eva Menasse in Berlin. Über seine Romane könnt ihr euch hier informieren.

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